Ich kann jeder sagen
nicht aus, sie verstehen nichts, sehen keine Feinheiten. Sie wissen nur eines mit Sicherheit: wer am Ende der Sieger ist. Dem jubeln sie zu! Warte nur ab, was sich abspielt, wenn sie merken: Ich bin auf der Siegerstraße!
Und er hatte recht. Die Fußballnationalmannschaft war 1954 nicht Weltmeister geworden, aber Vater gewann Kampf um Kampf. Es waren keine großen Kämpfe, es waren Siege. Das Publikum wurde aufmerksam. Und am Ende, als die Krone in Reichweite kam, hysterisch. Im Jahr 1957 bekam Vater die große Chance. Ein Kampf gegen den regierenden Europameister Ingemar Johansson. Der Sieger sollte danach gegen den Weltmeister Floyd Patterson antreten dürfen. Vergilbte Zeitungsseiten: Eine Nation huldigte meinem Vater. Kluge Analysen: Johansson war ein Schläger, und Vater hatte mehrfach bewiesen, dass er diesem Typus Boxer technisch überlegen war. Johansson hatte Konditionsprobleme – gewann er nicht rasch durch K.o., kam er ab der achten Runde in Schwierigkeiten. Mein Vater wurde dafür gelobt statt wie bisher kritisiert, dass er es wie kein anderer verstand, auf unspektakuläre Weise einen Gegner zu ermüden und zu zermürben, um am Ende jene Schläge anzubringen, die für einen Punktesieg reichten. Das Land erblickte plötzlich in Vater sich selbst: überlegen durch »Schmäh«, auf der Siegerstraße durch Klein-Machen und dann die Chance nutzen, Taktik statt Gewalt, feine Technik statt Roheit, ja, so sind wir, bejubelten sie sich selbst, als sie Vater zujubelten. Wir sind keine Amis, wir sind keine Deutschen, wir sind »klein, aber oho!«, wir sind so wie »der Zarte«.
Vater verlor gegen Ingemar Johansson durch K.o. in der ersten Runde.
Johansson drängte Vater in eine Ecke des Rings, Vater ließ sich wie immer in die Seile fallen, lehnte den Kopf weit zurück, schützte den Körper. Da soll er noch gelächelt haben, so wie auch ich oder du lächeln, wenn wir im Gefühl geistiger Überlegenheit einen aggressiven Idioten beruhigen wollen. In den Ringecken aber sind die Seile nicht so elastisch wie an den Seiten, er federte nicht weit genug zurück, um den Angriffsschlag ins Leere gehen zu lassen, blieb also mit ungedecktem Kopf in der Reichweite des Schweden, der keine Sekunde lang ein anderes Ziel gehabt hatte als das Gesicht meines Vaters. In diesem Moment spaltete sich das Leben meines Vaters wie durch einen Axthieb in zwei Teile, zwei Zeiten, zwei Ewigkeiten. Es war die Unendlichkeit, die zu vergehen schien, während er dies begriff: Das war das Ende! Das war nicht Zeitlupe, erzählte mir Vater später, das war ein Zeitmikroskop. Er sah jedes einzelne Molekül der Zeit als Standbild. Die Faust, die auf sein Gesicht zukam. Das Gesicht, das zu nahe bei der Faust war, die Faust, die unendlich langsam immer näher zum Gesicht kam. Und dann die zweite Ewigkeit: die Zeit danach. Sie hört nie auf. Es gibt kein Ende für ein Danach.
Ich war nach diesen Sekunden ein Scheidungskind.
Ich musste dreißig Jahre alt werden, um zu begreifen, dass meine Eltern sich nicht deshalb trennten, weil Vater diesen Kampf verloren hatte, weil Mutter keine Perspektive sah und sich betrogen fühlte, nicht von ihrem Mann, sondern vom Schicksal: Sollte sie jetzt Wäsche waschen und bügeln und putzen für einen Mann, der nichts mehr werden konnte, nicht einmal Ministerialrat? Nein, so dachte Mutter nicht. Sah Vater das Leben, das nun vor ihm lag, als neuen Kampf, den es zu gewinnen galt? Nein. So dachte Vater nicht. Die Zeit der Kämpfe war vorbei. War er arbeitslos? Wovon kann ein gedemütigter Ex-Boxer leben? Diese Frage stellte sich nicht. Er wurde Polizist. Das war damals möglich: eine Bewerbung, eine Ausbildung, ein Posten. Er konnte meiner Mutter keinen Lorbeer bieten, aber ein Leben. Vater wurde ein sanfter Mann. Höflich und freundlich schritt er seinen Rayon ab. Wenn er bei einer Wirtshausrauferei einschreiten musste, ließ er sich nie von Betrunkenen provozieren, die, weil sie ihn erkannten, sich höhnisch und verächtlich mit ihm, dem Verlierer, mit Fäusten messen wollten.
Was ist passiert? Warum habt ihr euch getrennt?
Er ging. Ich weiß es nicht. Er ging.
Sie trennten sich, weil – ich war dreißig, als ich es endlich verstand. Zu verstehen glaubte. Es muss nicht stimmen. Eine Theorie. Vater war da seit vier Jahren tot. Eine Hirnblutung. Er saß in der Wachstube und bekam Nasenbluten. Wer denkt bei Nasenbluten an Gefahr? Vater soll aufgesprungen sein, sich an die Wand gelehnt haben, den Kopf weit
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