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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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zurückgebeugt, und Nein gesagt haben, mehrmals Nein! Er soll bereits tot gewesen sein, aber immer noch aufrecht gestanden haben, breitbeinig, die Fäuste geballt, an die Wand gelehnt. Doch, er war ein Kämpfer!
    Man wusste noch, dass er Boxer gewesen war, also hatte man eine rasche Erklärung: Gehirnblutung, sagte man, Spätfolge seiner Boxer-Karriere. Aber er war nicht mehr so prominent, dass man der Sache wirklich auf den Grund gegangen wäre. Was denn jetzt? Gehirnblutung oder Nasenbluten? Nasenbluten – daran stirbt man nicht! Mein Vater schon!
    Es war das Jahr meiner Promotion. Meine Mutter war stolz auf mich. Ich selbst aber hatte nicht das Gefühl, dass ich etwas geleistet hatte. Ich war herangewachsen. Ich hatte in einem Zug gesessen, der planmäßig eine Station nach der anderen abklapperte, bis er in einen Kopfbahnhof einfuhr. Kindergarten, Schule, Universität. Ich studierte Chemie. Nach der Promotion ein Essen. In einem feinen Restaurant. Was Kleinbürger für ein feines Restaurant halten. Ein trauriges Fest. Nur Familie. Aber das war keine Familie. Mütterlicherseits: die verwitwete Tante Loisi, bleich, ein überzuckerter Krapfen auf Tortenpapier. Die apathische, wie versteinerte kleine Oma. Väterlicherseits: kein Vater. Er war drei Monate zuvor gestorben. Seine Mutter, »die Kampf-Oma«, eine Frau wie ein Sandsack, der an einer eisernen Kette am Leben hing. Eine Großtante, ebenfalls Witwe, ein geschrumpfter, zerknitterter Mensch, wie aus Pergamentpapier gefaltet. Eine Tante, die jüngere Schwester meines Vaters, Witwe auch sie, so mollig weich und geistlos fröhlich, dass das Leben und später wohl auch der Tod an ihr abprallten wie von der Wand einer Gummizelle. Konnten in dieser Familie nur Frauen nicht sterben?
    Dein Vater wäre stolz auf dich, sagte Mutter. Du hast den Titel errungen!
    Nein, sagte ich, ich habe mich wie er nur qualifiziert.
    Ich neige dazu, mein Leben zu dramatisieren. Ich habe versucht, es nicht zu zeigen. Nicht wehleidig zu sein, auch das eine Mitgift meines Vaters. Niederlagen, Scheidung, Einsamkeit, Verhöhnt-Werden, ja, es ist ein Lebensmorast, man geht ins Leben und tritt nie auf sicheren Grund. Aber: Wer tut das schon? Die glückliche Kindheit ist eine Ideologie der Privilegierten, die Memoiren schreiben. Die Mehrheit aber kämpft um das Leben und erzählt es nicht, oder verliert das Leben und kann es dann erst recht nicht erzählen. Ich spende Geld für Hungernde in Afrika, für Freiheitsbewegungen in Lateinamerika, sogar für die Rettung der Wale. Manchmal frage ich mich, ob ich mit all diesem Geld nicht mir selbst etwas Gutes tun sollte. Aber was? Kann man Glück kaufen?
    Ich bin Chemiker. Und ich brauchte Jahre, um zu begreifen, dass das Glück nur synthetisch existiert: so wie blond gefärbte Haare, wenn man nicht blond ist. Das Konkrete, das Natürliche, ist nur die beliebige Trägersubstanz, austauschbares Elend.
    Ich war dreißig, als ich Maria kennenlernte. Ich weiß nicht mehr, wie sie wirklich hieß, ich nenne sie jetzt Maria, der einfacheren Erzählung halber. Es war nicht Liebe. Das ist für das Verständnis dessen, was ich erzählen will, wichtig: dass es nicht Liebe war. Kein großes Gefühl schon von Anfang an. Kein Pathos. Ein bisschen Begehren. Die Einsamkeit und ein bisschen Begehren. Da war für einen Mann nicht viel mehr zu erwarten als etwas abstrakter Trost – aber ich sollte bei ihr viel mehr finden.
    Als ich zum ersten Mal in ihrem Bett aufwachte, war Maria schon gegangen. Sie hatte angekündigt, dass sie sehr früh raus müsse. Es beunruhigte mich also nicht, dass sie weg war. Ich war gerade so weit wach, dass ich es bemerkte, aber noch so schläfrig, dass ich mich wieder dösend hineinkuschelte in die warme Schlafmulde – und plötzlich erfasste mich ein Glücksgefühl, so groß, wie man es wohl nur haben kann, wenn man kein Leben gehabt hat mit Niederlagen und Demütigungen und Verlusten. Ein Glücksgefühl, so groß, wie man es nur empfinden kann, wenn man im Urvertrauen lebt – oder sich sekundenlang in einem aus der Zeit herausgehobenen Zustand befindet, sozusagen unter dem Zeitmikroskop, wo alles wirklich ist und doch nicht Realität, weil es nur eines ihrer Moleküle ist. Ich hatte das Gefühl, ganz stark zu sein, dabei aber wehrlos, und es war unerheblich, dass ich wehrlos war, ich fühlte mich geborgen und wusste zugleich, dass ich Schutz bedurfte, und dass zugleich egal war, was nun passieren würde, weil dieser Moment unendlich war.

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