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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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erzählte mir Mutter, dass ein Mädchen da alleine saß und ein Glas Wein trank, aber es herrschte doch eine gewisse Moral:
    Wenn deutlich war, dass einer sie belästigte, dann gab es immer einen anderen, der sie schützte. Auf jeden Fall der Wirt. Er hieß Hans John, genannt Joe-Joe, war ein ehemaliger Boxer, der aussah wie eine grob gegerbte Ledertasche, vollgepackt mit schlaffen Muskeln. Ein Wort von ihm genügte, und es herrschte Ruhe. Natürlich habe sie sich immer wieder einladen lassen, sie habe ja wenig Geld gehabt. Aber es sei nie zu etwas gekommen, was über Reden und Hofiert-Werden hinausging. Von Männern hofiert zu werden, das war es ja, was sie wollte, aber an einen Mann dachte sie noch nicht.
    Dort lernte sie meinen Vater kennen. Er kam von der Arbeit: »Blondinen bevorzugt« im »Auge Gottes«.
    Hat er dich angesprochen? Wie war das? Was hat er gesagt?
    Dass er Weltmeister werden wolle.
    Das war das Erste, was er dir gesagt hat?
    Nein. Das Erste, an das ich mich erinnern kann.
    Und was hast du gesagt?
    Ob er Fußballer sei.
    Es muss eine surreale Situation gewesen sein, in diesem Lokal, an dessen Wänden gerahmte Fotos von Box-Legenden hingen, Männer mit zerknautschen Nasen hinter der Deckung ihrer Fäuste.
    Du hast dir wirklich nicht gedacht, dass er Boxer ist?
    Nein. Er war so höflich.
    Er war kein Halbstarker, wie ihn Tante Loisi prophezeit hatte. Und er hatte große Träume. Es war ein anderer Abend, als Mutter Vater fragte, ob er finde, dass ihre Nase zu groß sei. Nein, hatte er gesagt, und sie spürte, dass er sie jetzt küssen wollte. Ein anderer Abend: Sie fragte, ob ihre Nase nicht doch zu groß sei. Er sah Marilyn in ihr, die Marilyn, die ihm zugänglich war. Nein, sagte er, wie kommst du darauf? Er wollte sie küssen, aber nicht hier, hier nicht einmal auf die Nase.
    Ein anderer Abend: Vater brachte immer Geschenke zum Rendezvous mit, kleine Aufmerksamkeiten, Schokolade zum Beispiel, die »Milka«-Rolle mit der blauen Quaste, oder Kirschen, als es die ersten Kirschen gab. Dann eines Abends dies: ein Parfum, Chanel N° 5, das Parfum, von dem Marilyn Monroe gesagt hatte, dass – und Mutter verstand. Nicht gleich. War es vielleicht eine Anspielung auf ihre Nase? Nein. Sie verstand. Wann sie es tragen sollte. Wo er es riechen wollte. Mutter schwor ihm ewige Treue.
    Bald darauf entstand dieses Zeitungsfoto, heute vergilbt und mürbe: Vater, die »Hoffnung«, Mutter guter Hoffnung (»Auch wenn man es da noch nicht sieht: du warst schon unterwegs!«). Vaters erster Profikampf. Bis dahin war er Amateur gewesen, das heißt, er hasste, was er tun musste. Um Geld für die Miete seiner trostlosen Küche-Kabinett-Klo-am-Gang-Wohnung zu haben, um meine Mutter ausführen zu können, und vor allem um den Betrag zu bezahlen, den jeder registrierte Boxer an den Boxsportverband zu entrichten hatte, um offizielle Kämpfe zu bekommen. Mit der Börse, die er für den ersten Profi-Kampf erhielt, machte Vater die Anzahlung für eine anständige, eine gemeinsame Wohnung. Nun war nach der Käfigtür auch die Zimmertür aufgegangen, und Mutter konnte hinausfliegen, den Schnabel hochgereckt in die Luft.
    Vater gewann den Kampf nach Punkten. Er hatte keinen einzigen K.o.-Sieg auf seinem Rekord. Er war ein Techniker, kein Schläger. Alle seine Gegner waren massiger und wuchtiger als er. Er kämpfte immer mit einem Gewicht knapp über dem Mindestgewicht. Er wollte die Königskrone. Den Titel im Schwergewicht. Dazu musste er nach der Regel mindestens 90,892 Kilogramm auf die Waage bringen. Es war immer knapp. Er hieß »der Zarte«.
    Vater ließ sich, wenn er bedrängt wurde, in die Seile fallen, bog den Oberkörper weit zurück, so dass sein Gesicht außer Reichweite des Gegners war, und schützte seinen Körper. Er machte die Gegner müde. Er tanzte mit ihnen wie ein Torero im Kampf gegen einen Stier. Im Angriff ging er auch nie auf das Gesicht, den Kopf. Jabs, ja. Irritieren, täuschen. Dann hagelten seine Fäuste auf die Leber des Gegners. Sie schützen die Nase, sagte er, und vergessen die Leber. Sie decken den Kopf und eröffnen freie Bahn auf den Leib. Er vertraute dem Merksatz von Joe-Joe, dem Europameister von 1932: »Du musst den Kopf nicht treffen. Fällt der Körper, fällt auch der Kopf!«
    Dieser Stil begeisterte die Massen nicht. Vater war nicht das, was man einen Publikumsmagneten nannte. Mutter erzählte mir, dass er jedoch unbeirrbar gewesen sei. Die Massen! Er zuckte die Achseln. Sie kennen sich

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