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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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vorüberzogen.
    »Wir hatten damals in den Staaten schon einen Fernsehapparat«, sagte Debbie.
    Manchmal wurde das Bild oder ein Teil des Bildes blitzartig ganz weiß, wie überbelichtet, dann formten sich wieder hell- und dunkelgraue Konturen, die sich ruckartig über den Bildschirm bewegten.
    »Immer wieder habe ich diese Filmsequenz angestarrt. Immer wieder. Immer wieder.«
    Noch einmal. Als würde der Film zurückgespult. Als würde jetzt ein Bildausschnitt vergrößert. Ein grobkörniger Schatten, der sich nun wie in Zeitlupe durch das Bild bewegte.
    »Hm«, sagte der Doktor, dann noch einmal »Hm.«
    Ich konnte nichts erkennen. Ich wurde wütend. Ich starrte auf den Monitor, während der Arzt mit einem Stift langsam auf Debbies Bauch hin- und herfuhr. Debbie wollte sich aufrichten, um besser hinsehen zu können, sie lächelte in seltsamer Verzückung: »Kann man schon das Geschlecht erkennen?« Die Schwester legte ihr die Hand auf die Stirn, drückte ihren Kopf sanft zurück. Nichts zu sehen. Ich hatte es gewusst. Nur Hokuspokus. Entmenschte Technikmedizin. Rausgeworfenes Geld.
    »Mhm«, sagte der Doktor, und: »Vielen Dank. Sie können sich anziehen.« Wir wurden gebeten, im Wartezimmer kurz Platz zu nehmen, der Befund für den behandelnden Arzt würde gleich ausgefertigt werden.
    Während wir warteten, wurde Debbie immer nervöser. »Irgendetwas stimmt da nicht«, flüsterte sie. »Da ist etwas faul!«
    Da hätte der Doktor doch etwas gesagt, sagte ich.
    Ihre Stimme wurde lauter: »Da stimmt etwas nicht! Was hast du gesehen? Du hast doch auf den Monitor sehen können. Was? Bitte! Was hast du gesehen?«
    Ich machte eine beruhigende Handbewegung. Jetzt schrie Debbie: »Was. Hast. Du. Gesehen?«
    Nichts, sagte ich leise. Schrei nicht so! Ich meine, ich bin ja kein Experte, unklare Konturen …
    »Unklare Konturen?«, nun stiegen ihr die Tränen hoch.
    Wie soll ich sagen? Ich weiß ja nicht, wenn da ein Fleck zu sehen ist, ob das ein Stück Leber ist oder –
    »Mein Baby ist kein Stück Leber!«, schrie Debbie, entzog mir ihre Hand und holte gegen mich aus – als plötzlich die Schwester neben ihr stand und ihr einen Umschlag in die hochgestreckte Hand legte. Es war wie ein Kameraschwenk zum Himmel, als ich den Kopf hob, von Debbies schmerzverzerrtem Gesicht hinauf zu ihrer Hand schaute, zum Umschlag und weiter zu dem seltsam entrückt lächelnden Gesicht der Schwester. Wie Wölkchen ihre hellen Augen, das sonnenblonde Haar. »Ihr Arzt wird Ihnen den Befund erklären und alles mit Ihnen besprechen!«
    Debbie sah den Umschlag an, er war an ihren Frauenarzt adressiert und zugeklebt. Sofort riss sie ihn auf.
    Lass das, flüsterte ich. Du kennst dich doch auch nicht aus, du verstehst das nicht. Komm, komm!
    Ich zog sie aus der Ordination hinaus. Im Lift las sie den Befund, während ich sie im Spiegel der Liftkabine beobachtete. Auf der Straße setzte sie sich auf die Kühlerhaube eines parkenden Autos und weinte. Es war ein schreckliches Weinen, das sie völlig entstellte.
    Debbie beugte sich rüber zu dem Mann am Nebentisch und fragte, ob sie eine Zigarette haben könne. Der Mann nickte, deutete einladend auf das Päckchen, das vor ihm lag, und sagte ins Telefon: »Du denkst zu viel. Du musst dir denken: Das hilft jetzt alles nichts!«
    Fängst du wieder an? fragte ich.
    »Immer wieder haben wir im TiVi diese Bilder gesehen«, sagte Debbie, »diese Abfolge von Schemen, im Schnelldurchlauf, in Zeitlupe, in Superzeitlupe, einzelne Bilder herausvergrößert, noch einmal und noch einmal wiederholt, was war da zu sehen? Ich sah nichts, aber ich wusste –« Sie zog an der Zigarette und schüttelte den Kopf. »Und mein Vater sagte … weißt du, was seltsam ist? Das war das erste Mal in meinem Leben, dass ich sofort wusste, unmittelbar während es geschah, dass ich mich ewig daran erinnern werde. Kennst du das? Diese Momente, in denen man sich plötzlich von außen sieht und zugleich schon als künftiges Erinnerungsbild?«
    Ja, sagte ich. Was hat dein Vater gesagt?
    »Die schönsten Hoffnungen für die Menschen auf der ganzen Welt – in einem kurzen Augenblick zunichte gemacht! Das hat er gesagt. Kannst du dir vorstellen, was das für ein Kind bedeutet, wenn es hört: Ab jetzt gibt es nur noch Trauer und Hoffnungslosigkeit auf der Welt? Kannst du dir das vorstellen? Wenn das zur ersten klaren Erinnerung eines Menschen wird?«
    Sie machte eine wegwerfende Handbewegung, mit der sie ihr Weinglas umstieß. Ich sprang auf,

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