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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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der Mann am Nebentisch hatte plötzlich ein Päckchen Papiertaschentücher in der Hand, reichte es Debbie und schrie ins Telefon: »Weißt du was? Ich kann dir nicht helfen!«
    Lass uns gehen, sagte ich.
    Debbie tupfte mit Taschentüchern die Weinlache auf dem Tisch auf, schüttelte langsam den Kopf. Die Kellnerin kam, wischte den Tisch sauber, brachte frischen Wein. Debbie bestellte Zigaretten. »Ich habe doch noch welche! Hier! Bitte!«, sagte der Mann vom Nebentisch.
    »Oh, das ist sehr nett!«
    »Amerikanerin?«
    Debbie lächelte.
    »Ihr Deutsch ist sehr gut!«
    »Danke!«
    Es ist nie ein Kind in Debbies Bauch gewesen. Es war eine Scheinschwangerschaft. Ein sogenanntes Luftei. Aber der Körper reagiert zunächst wie auf eine echte Befruchtung. Es wächst der Bauch, der Busen, und offenbar umso stärker, je mehr die Frau sich in ihre Schwangerschaft hineinlebt, sich darauf konzentriert. Es war gespenstisch – und ich würde es keinem glauben, wenn ich es nicht selbst erlebt hätte: Als Debbie erfuhr, dass es nur eine Scheinschwangerschaft war, bildeten sich ihr Bauch und Busen innerhalb von drei Tagen vollkommen zurück, und sie sah wieder aus wie vorher. Es war wie ein Rückspulen im Zeitraffer.
    In diesen drei Tagen, und auch jetzt, sah ich sie immer wieder wie in einem sich zurückspulenden Film. Wenn sie redete, sprach sie Sätze nicht aus, sondern saugte sie ein, und wenn sie gestikulierte, holte sie nicht aus, sondern führte die Hände zu ihrer Brust zurück.
    »Das Bild, das ich am deutlichsten in Erinnerung habe: wie die First Lady während der Fahrt aus dem Fond des offenen Wagens klettert und über das lange Heck des Autos nach hinten kriecht. Dann ging die Kamera hoch, und –«
    Ich habe es anders in Erinnerung. Sie hat sich über ihren Mann geworfen.
    »Ja, zuerst. Vielleicht. Aber dann ist sie gegen die Fahrtrichtung über das Heck des Autos zurückgekrochen. Und die Kamera ging hoch, vielleicht dorthin, wo der Kameramann den Schützen vermutete, und da explodierte die Sonne im Bild, die texanische Sonne.« Sie trank ihr Glas aus, gab der Kellnerin ein Zeichen. Wieder war eine Szene zurückgespult: Plötzlich war ihr Glas wieder voll.
    »Ich habe einmal gelesen, dass Menschen, die tot waren, aber wieder zurückgeholt werden konnten, berichteten, dass sie ein ganz starkes Licht gesehen hätten, eine Lichtexplosion. Da musste ich auch an die Bilder von der Ermordung Kennedys denken.« Sie trank. »Nur, dass er nicht zurückgekommen ist.«
    Das Attentat war doch im November?, sagte ich.
    »Ja. November 1963.«
    Seltsam.
    »Warum?«
    Weil es kein Novembertag war, sagte ich.
    »Oh doch! Genau einen Monat nach meinem vierten Geburtstag. Also der 22. November, okay?«
    Ja, sagte ich. Sie verstand nicht, was ich meinte. Der Tag war nicht trüb und grau, kein typisches Novemberwetter. Die Erde, dachte ich, musste sich damals besonders nahe an der Sonne befunden haben, weil alles so grell, so überbelichtet erschien. In meiner Erinnerung war es eine Zeit der Blendungen. Ich sehe mich neben meinen Eltern stehen, mit zusammengekniffenen Augen, blinzelnd, sie reden mit anderen Erwachsenen, denen sie gerade auf der Straße begegnet sind, sie alle tragen Sonnenbrillen, meine Mutter hat eine besonders schicke Brille: Statt Gläsern hatte sie Jalousien! Eine moderne Brille aus Amerika! Mit dieser Brille sah man die Welt mit anderen Augen, und man wurde auch anders angesehen: Das war damals etwas, eine amerikanische Brille!
    Der Mann am Nebentisch sagte: »Kannst du bitte endlich dein Hirn einschalten? Kannst du das endlich begreifen? Du musst das vergessen!« Dann sagte er: »Weißt du was? Komm her! Ich bin in der Eisernen Zeit. Das Gequatsche hat doch keinen Sinn. Komm her und ich erklär’ dir alles!«
    Das Bier schmeckte mir nicht mehr. Gehen wir nach Hause?, fragte ich.
    Debbie sagte etwas, vor ihrem Gesicht verschwebte Rauch. Schall und Rauch. Ich bestellte ein Glas Wein. Debbie deutete der Kellnerin: Zwei!
    Ich sah meine Mutter vor mir, mit der amerikanischen Brille, und ich hatte den Eindruck, dass sie in die Zukunft sehen konnte. Und dann sah ich sie vor mir, wie sie mich anschaute, die Jalousien der Brille warfen Schatten auf ihre Augen, und sie sagte: »Kennedy hätte uns den Weltfrieden bringen können!«
    Das hatte ich nicht verstanden, weil das Kind, das ich war, ohnehin glaubte, in Friedenszeiten zu leben, ich kannte nichts anderes. Es gab zwar noch kriegsbeschädigte Gebäude in Wien, zum Beispiel

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