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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Weiten des Alls und eben in Luxemburg.
    Ich hatte alles erledigt, weswegen ich nach Luxemburg gekommen war, aber ich musste noch warten. Mein Rückflug nach Wien ging erst am nächsten Tag. Warten. Warten. Ich kann zwar Fliegen etwas zuleide tun – wenn ich sie erwische, aber ich kann Zeit nicht totschlagen. Schon gar nicht die Luxemburger Zeit. Was immer ich versuchte – sie taumelte, sie röchelte, sie sank langsam nieder. Aber jedes Mal erhob sie sich aufs neue, frisch und zäh, begann – als wäre sie noch kein bisschen vergangen.
    Ich hätte das Finale der Fußballeuropameisterschaft 2004 gerne zu Hause gesehen, mit Freunden vor einem großen Bildschirm. Doch ich musste warten, warten, bis ich endlich, alleine in einem Hotelzimmer, den grindigen Portable einschalten konnte, ein Gerät aus vergangenen Tagen, aber: Hier vergehen sie ja nicht.
    Ich glaube nicht, dass man an einem Tag eine Stadt kennenlernen kann. Ich versuchte es daher auch nicht. Ich besuche keine Kirchen, ich gehe auch zu Hause in keine. Museen? Ermüden mich. Hat Luxemburg überhaupt Museen? Solche, die man gesehen haben muss? Ich muss nichts sehen. Ich wollte das Finale sehen.
    Ich saß in einem Straßencafé. Noch vier Stunden. Müde Fliegen torkelten durch den Luftraum. Ich trank Rosé. Der einzige Mensch, den ich in Luxemburg kannte, trank immerzu Rosé-Wein. Ich dachte, das macht man hier so. Die Zeit verging nicht. Ich musste etwas tun. Ich ging in ein anderes Café. Trank Rosé. Meine Stimmung wurde immer bewölkter. Dichte Wolken zogen auf, stapelten sich zu grau-schwarzen Türmen. Luxemburg ist klassisch: Wie im alten Bildungsroman will das Wetter zur Befindlichkeit des Helden passen. Ich sah auf die Uhr. Ich überlegte, einen Uhrmacher zu suchen. Meine Uhr schien zu stehen. Am Nebentisch eine Frau. Sie war schön. Es hat keinen Sinn, eine Frau zu beschreiben, die man schön findet, so dass jeder sie schön findet, während ein anderer sie in Wirklichkeit vielleicht nicht schön findet. Wer für alle schön ist, ist eine Puppe. Diese Frau war keine Puppe, ich fand sie schön. Sie hatte ein Geheimnis. Aber das hat im Grunde jeder, den ich nicht kenne. Ich trank Rosé. Total luxemburgisch. Die Frau am Nebentisch war hier bekannt. Die Kellnerin nannte sie beim Namen. Corinne. Das Café hatte eine sehr große Glasfront. Die schwarzen Wolkentürme standen in der Luft, als würde sich die Skyline von Manhattan im Himmel über Luxemburg spiegeln.
    Ich zahlte und ging. Ging. Ich war schon betrunken. Es ging. Es gab einen Knall. Plötzlich war ich in einem Café, als hätte mich eine Druckwelle hineingeschleudert. Ich ließ mich an einen Tisch am Fenster fallen und sah – einen Wolkenbruch, so heftig, dass ich zum ersten Mal den Begriff »Wolkenbruch« angemessen fand. Es knallte und krachte, in Sekundenbruchteilen wurde es finster, ganz schwarz von den Wolkenbruchstücken, die, mit unermesslicher Energie vor die Sonne geschleudert, den Tag verdunkelten, und dann stürzte das Wasser herunter, es regnete nicht, es stürzte Wasser herunter. Die Lüster im Café flackerten, ich schaute aus dem Fenster und wusste, dass das Warten jetzt seinen Inhalt bekommen hatte: Das musste ich abwarten, diesen – ja: diesen Wasserfall, bis ich überhaupt daran denken konnte, zum Hotel zurückzugehen. Da stand plötzlich ein Mann auf der Straße, mitten auf der Straße, und er streckte seine Hände zum Himmel, begann sie langsam zu schwenken, mit den Fingern zu schnippen, etwas schneller, die Füße folgten den Bewegungen seines Oberkörpers, sehr ebenmäßig, fast statuenhaft waren seine Gliedmaßen, die sich unter dem völlig durchnässten und an seinem Körper klebenden Gewand abzeichneten, und – er tanzte Sirtaki. Seine Musik war nur das Geknalle der Regentropfen, sein Tanzpartner lediglich eine imaginäre Menschheit, der er die Arme um die Schultern legte, während er vorsichtig einen Schritt nach dem anderen nach rechts und nach links und wieder nach rechts setzte; ein Auto kam, ein zweites, dann eines aus der Gegenrichtung, sie blieben stehen vor diesem Mann, der mitten auf der Straße tanzte, sie hupten nicht, sie standen da, ich konnte in diesem Regen die Menschen nicht sehen, die in den Autos saßen, aber ich sah die Scheibenwischer, sie korrespondierten mit den Schwenkbewegungen der Arme des tanzenden Mannes – war er betrunken? Er war besoffen, völlig durchgesoffen vom Regenglück, das abrupt endete, in einem Lichtblitz, der zu einem Standbild

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