Ich kann jeder sagen
stattgefunden hatten, schließlich einen Film über Bergsteiger, den wir gelangweilt als einen weiteren Vorfilm über uns ergehen ließen. Wann kamen endlich die Indianer? Der Kampf um den Marterpfahl?
Nie. Es wurde hell im Saal, meine Erinnerung wird dunkel, nur so viel blieb: Wir hatten den Film »Der Kampf ums Matterhorn« gesehen – keine Indianer, sondern das Drama um die Erstbesteigung eines Berges, bei dem sich, wie man heute in Lexika nachlesen kann, ein österreichischer Nazischauspieler besonders hervorgetan hatte.
Luis Trenker?, fragte Michel.
Ja
Ich melde vor der Geschichte die Erstbesteigung –
Sei still! Hör zu! Geschichtsmächtig, auf eine belanglose Weise, nämlich bloß anekdotisch, war bei diesem Kinobesuch jedenfalls Folgendes: Im Vorfilm über die Olympischen Spiele wurde auch das Finale des Hundertmeter-Laufs gezeigt – in Zeitlupe. Wir Kinder waren Kinder im schönsten Sinn –
Breiexistenzen!
Ja. So naiv, dass wir dachten, dass Zeitlupe eine eigene olympische Disziplin sei – die zu beherrschen danach unser größter Ehrgeiz wurde. Wir übten wochenlang »Zeitlupe laufen«, und wäre dies je eine offizielle Wettkampfdisziplin geworden, wir Bad Ischler Schüler wären unschlagbar gewesen, mit all unserem Leiden an der Schwerkraft der Verhältnisse.
Und dann?
Dann wurden wir älter. Also jung. Man ist jung, solange man versucht, sich älter zu machen. Und –
Endlich ein schöner Satz! Sagte Michel. Er hatte bereits einen leichten Zungenschlag vom Wein. Er war kaum mehr aufnahmefähig, und die Geschichte war noch lange nicht zu Ende, besser gesagt, schon zu Ende, aber noch nicht erzählt. Jedenfalls, sagte ich, hatte ich zum Beispiel mit sechzehn Jahren keine Gelegenheit, ins Kino zu gehen und mich für achtzehn auszugeben. Ich war eingesperrt in einem Internat, in einer geschlossenen Erziehungsanstalt, als Kind gehalten, um meine Jugend betrogen. So wie du.
Wie ich, ja, als Kind gehalten, verdammt dazu, ewig ein Kind zu bleiben, verschärft durch einen vergreisenden Körper.
Nein, Michel, nein! Genau das will ich dir erzählen, dass das nicht stimmt. Darum geht es: Wir wurden erst sehr spät jung, aber dafür bleiben wir es ewig.
Merde! sagte er, trank, dann: Ewig jung? Lass hören!
Also: Als ich endlich achtzehn war und das Internat verlassen konnte – du warst mit deinen Eltern schon längst zurückgegangen nach Paris –, da war ich nichts; zu unerfahren, um mich glaubhaft älter machen zu können vor den Erfahrungen der Älteren, zugleich schon zu alt, um glücklich desinteressiert an ihnen zu sein. Es ist eine seltsame Erfahrung, wenn man sein »Leben« in einer Zeit beginnt, in der es weit und breit keine Zeitgenossen zu geben scheint, nicht einmal als ein Spiegelbild.
Das, mein Freund, war dann für mich in Paris anders.
Das kannst du danach erzählen! Aber als sich für mich die Tore des Internats öffneten, in dem ich von der Wirklichkeit ausgesperrt gewesen war, ich in die Freiheit hinaus - und in die Universität eintreten konnte, war ich augenblicklich umzingelt von lauter Veteranen: ehemalige Studentenführer, ehemalige Kommunegründer, ehemalige Revolutionsdichter, ehemalige Selbstbefreier, ehemalige kreative Geister, die jetzt als dogmatische Gespenster umgingen. Mein schlechtes Gewissen war grenzenlos, ich hatte den unverzeihlichen Fehler begangen, im Jahr achtundsechzig nicht bereits zwanzig Jahre alt gewesen zu sein. Man entkam diesen Veteranen nicht, es gab keine Alternativen. Welche denn? Studentenverbindungen? Höhere Töchter mit Hermes-Tüchern? Nein, es gab nichts vernünftig Gegenläufiges zum Mainstream des Gegenläufigen, und einfach »affirmativ« zu sein, war für ein denkendes Gemüt nie so unmöglich wie damals. Ich saß also in Hörsälen, die zugleich und vor allem Wartesäle der Veteranen waren, in denen sie »überwintern« wollten, bis sich »die Geschichte« wieder hinausverlagern sollte auf »die Straße«, wo sie meinten, Experten zu sein, die sich wieder an die Spitze der Bewegung setzen konnten. Aber es bewegte sich nichts. Nicht einmal in Zeitlupe. Was ich damals bis zum Erbrechen lernte, waren Reminiszenzen, so schamlos ausgebeutet wie der Kaiser in Bad Ischl: WIR, die Veteranen, haben Geschichte gemacht! Wir haben in die Geschichte eingegriffen! Wir, mit unseren Bärten und Nickelbrillen, haben welthistorische Bedeutung. Bewundert uns und lasst euch von uns ficken, damit ihr lernt, was Freiheit ist!
Und? Hast du dich ficken
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