Ich kann jeder sagen
Glasscheibe herein, traf mein Gesicht, das nun heiß wurde, ich schloss die Augen und öffnete sie erstaunt erst wieder, als Michel, der inzwischen immer weitergeredet hatte, plötzlich sagte, dass die Jugend ein Lichtspiel sei und glücklich am Ende nur der, in dessen Alter nicht nur die unvermeidlichen Schatten, sondern immer noch ein Strahl dieses Lichts falle.
Es ist schwer, von einem Wochenende in Paris zu erzählen, richtig zu erzählen, so wie ein Erzähler es tut, wenn man die meiste Zeit mit einem Philosophieprofessor verbringt, der genüsslich seinen Lebensekel zelebriert und kein Streichholz anreißen kann, um einem höflich Feuer zu geben, ohne gleichzeitig eine These über die Kälte zu entwickeln. Fast alle Pausen zwischen den Vorträgen des Kongresses waren wir zusammen, die Zeit während der langweiligen Vorträge saßen wir in Cafés, und am Abend war ich ihm erst recht ausgeliefert, da ich bei ihm privat untergebracht war. Es war eine Freundschaft, die so künstlich war, wie er behauptete, dass es die Welt insgesamt sei – sie beruhte auf zwei Jahren in unserer Schulzeit, die er, damals Sohn eines französischen Diplomaten in Österreich, im selben Internat wie ich verbracht hatte. Es war eine Zeit, die, da gebe ich ihm recht, zweifellos sein wie mein Gemüt unglücklich geprägt hatte – und nur darauf beruhte das, was wir nach unserer späten Wiederbegegnung mit einiger Altersmilde unsere »Freundschaft« zu nennen beschlossen.
Aber wie nicht davon erzählen, wenn ein Lichtstrahl durch die Glasscheibe eines Cafés in Paris und gleichzeitig der eigentümliche Satz von den »Lichtspielen der Jugend« wie zwei mächtige Hammerschläge eine Mauer niederrissen, die eben noch das Leben auf ewig zu teilen schien: Elend diesseits, Zynismus drüben, oder umgekehrt.
Kindheit ist die Zeit der Unschuld, die man zu Recht vergisst, um später als Erwachsener überhaupt leben zu können, sagte ich, und Michel winkte ab. Da hätte ich schon aufhören können. Aber das musste ich erzählen. Lichtspiele, sagte ich, hör zu. Ich verbrachte meine Kindheit zufällig in Bad Ischl, einem Städtchen im Herzen der österreichischen Provinz, das der bevorzugte Sommerurlaubsort des ehemaligen Kaisers von Österreich gewesen war. Jedes Jahr besuchen Zigtausende Menschen aus aller Welt Bad Ischl, um an einem Ort Urlaub zu machen, der geprägt ist von Diensteifrigkeit gegenüber Touristen, der aber dabei nur gewillt ist, an einen einzigen Touristen zu erinnern: an den toten Kaiser. Sein altes Reich ist geschrumpft auf die Größe dieses Städtchens, das die Erinnerung an das Vergangene zu seiner Geschäftsgrundlage gemacht hat, und mein Reich der Kindheit hatte noch nicht einmal dessen Größe: Ich habe eine dunkle Erinnerung an eine Straße, die an einem Fluss entlang führte, einen Kai, der wie eine archaische Grenze die Grenze meiner Welt markierte: Ich wusste nicht, was sich auf der anderen Seite der Brücke, hinter der Kulisse der Villenzeile am anderen Flussufer befand. Die Stadt der Erinnerung gab ihren Kindern keine Möglichkeit, etwas zu erleben, an das sie sich später erinnern konnten.
Ich kenne Bad Ischl, sagte Michel, die Stadt mit der größten Selbstmordrate in Europa.
Das wusste ich nicht, sagte ich.
Ich auch nicht, aber ich kann es mir nicht anders vorstellen.
Jedenfalls, erzählte ich weiter, erinnere ich mich dunkel, saaldunkel, im Grunde nur an einen Kinobesuch – weil er der erste meines Lebens sein sollte. Eines Tages kam unser Lehrer, Herr Zeger, in die Klasse und verkündete mit dem Gesichtsausdruck eines Weihnachtsmannes, dass wir in der kommenden Woche ins Kino geführt werden würden. Unsere Freudenrufe gemahnten geradezu an Indianergeheul. Ich war damals acht Jahre alt, und das Kino von Bad Ischl hieß noch nicht »Kino«, sondern »Lichtspiele«. Tagelang hatten meine Mitschüler und ich den Lehrer genervt, er möge uns endlich verraten, was wir sehen würden. Er heizte unsere Neugier, unsere Vorfreude allerdings durch konsequentes Schweigen an. Mehr als schließlich die Auskunft: »Einen Film; einen spannenden Film! Ihr werdet schon sehen!«, war ihm nicht zu entlocken. Schließlich berichtete ein bei dem Lehrer besonders beliebter Schüler, dass Herr Zeger ihm den Titel des Films verraten hätte: »Der Kampf um den Marterpfahl«.
Wir sahen, als wir endlich im Kino saßen, zunächst einen Vorfilm, und zwar einen Bericht über die Olympischen Sommerspiele, die ein Jahr zuvor in Rom
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