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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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des Lichts wurde, Lichtbahnen zwischen Schattenecken, die Straße begann augenblicklich zu dampfen, wie auf diesen Popstarbühnen mit ihren Nebelwerfern, und plötzlich sah ich, dass der Mann ein himmelmeerblaues T-Shirt trug, das nun aufleuchtete, darüber sein weißes Gesicht mit dunklem Bartschatten, klatschnasses pechschwarzes Haar; der Mann steppte zur Seite, die Autos fuhren langsam an, rollten weiter. Da wusste ich: Ich musste auf Griechenland setzen, alles. Sofort. Ich zahlte und lief hinaus, suchte ein Wettbüro. Aber wenn man die Stadt nicht kennt …
    Noch eine Stunde. Kein Wettbüro. Nur geschlossene Geschäfte. Hotel! Internet! Ob ich – Ja, ich durfte. Im Büro des Hotels. Die Zeit lappte sich. Begann zu blitzen und zu rasen. Googeln »Sportwetten«. Antwort. Öffnen. Einwählen. »Betandwin.com«. Die Quote war 1: 6,8 bei Sieg Griechenland. Sofort ging ich online in mein Bankkonto. Wenn ich zehntausend oder noch mehr gehabt hätte, ich hätte sie gesetzt. Ich hatte zweiacht. Also beschloss ich, zweitausend zu setzen. Ich war mir sicher. Nicht ganz, sonst hätte ich alles gesetzt, aber doch sicher genug für fast alles. Zurück zu Betandwin. Man musste eine Erstanmeldung machen. Formulare ausfüllen. Bedingungen akzeptieren. Mittlerweile war die Quote für Griechenland sogar noch besser geworden. Offenbar hatten alle in letzter Minute auf Portugal getippt. Dann flog ich aus der Leitung.
    Neu einwählen. Wieder alles von vorne. Dann brach wieder die Verbindung zusammen. Magisch denkend, wie es meine Art ist, sagte ich mir: Es soll wohl nicht sein. Ich ging auf mein Zimmer. Holte eine Flasche Bier aus der Mini-Bar, dazu eine Packung Nüsschen, schaltete den Fernsehapparat ein – – und sehe fassungslos, wie Griechenland gewinnt.
    Kein Glück im Spiel! Das konnte nur eines bedeuten, dachte ich, als ich zurück zum Café ging, im leichten Regen, nicht im Nassen, sondern im Sprühen, kein Glück im Spiel, das hieß – und ich hätte alles darauf gesetzt, zweitausendachthundert auf Corinne.
    Wo war dieses verdammte Café? Ich wollte ankommen. Abfliegen. Da! Ich stieß die Tür des Cafés auf. Luxemburg ist ein seltsames Land.

Ewige Jugend
    Mein Vater war entsetzt, als ich ihm sagte, dass ich heiraten wollte und dass Tag und Ort schon feststünden. Er wiegte den Kopf, mit seinem typischen Gesichtsausdruck, in dem sich Abscheu, Verständnislosigkeit und Resignation mischten. Solange er mir gegenüber immer wieder dieses Gesicht machte, wusste ich, dass ich in seinen Augen noch immer nicht als erwachsen gelten konnte.
    Es war nicht die Tatsache, dass ich heiraten wollte, die ihn so erschütterte. Er hatte auch nichts gegen die Frau, die ich heiraten wollte. Ihn störte der Hochzeitstermin. Ausgerechnet dieser Tag. Wie kann man an diesem Tag heiraten, rief er und wiegte den Kopf. Was hast du dir dabei gedacht? Er tippte sich an die Stirn. Gar nichts hast du dir gedacht, wie immer.
    Ich hatte erwidert, dass es ein Tag wie jeder andere sei –
    Ein Tag wie jeder andere? Dieser Tag?
    Ich verstehe nicht, was du meinst. Wir wollen heiraten, möglichst bald, und der 9. 11. ist der nächste freie Termin am Ischler Standesamt.
    Das war kein gutes Argument, allerdings zugleich auch das beste: Mehr war nicht dahinter gewesen, als wir uns auf diesen Tag geeinigt hatten.
    Mit Grabesstimme sagte mein Vater, dass die ganze Familie zweifellos fröhlich und ausgelassen feiern und sich ewig an diesen glücklichen Tag erinnern werde –
    Na hoffentlich!
    Er bat mich, noch einmal darüber nachzudenken. Der neunte November! Er wolle mir noch eine Chance geben. Ich möge nachdenken! Ob das wirklich ein passender Tag sei?
    Ich sagte, dass ich lange und gründlich genug nachgedacht hätte. Ich wolle heiraten, und ich würde es am vereinbarten Tag tun.
    Der neunte November, sagte mein Vater, und er betonte jede Silbe, ist der Jahrestag der sogenannten Reichskristallnacht – und mein Sohn will ihn zum Freudentag machen, zum glücklichsten Tag seines Lebens.
    Pah! Geschichte!
    Warum fiel mir das jetzt ein, Jahre später, in Paris, während eines Gesprächs mit meinem Jugendfreund Michel?
    Wir saßen in einem Café in der Nähe von Les Halles, ich war auf eine belanglose Weise depressiv und eben deshalb glücklich, weil Michel wieder einmal das Talent bewies, so viele objektive Gründe für Depressionen aufzuzählen, dass folglich jeder als unglücklich gelten musste, der nicht depressiv war. Ein Sonnenstrahl fiel durch die große

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