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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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das schwarze Geisterhaus in der Schiffamtsgasse, in unmittelbarer Nähe zu dem Haus, in dem meine Großeltern wohnten. Diese Ruinen erschienen mir damals älter als die Prachtbauten auf der Wiener Ringstraße. Graue Vorzeit.
    Kennedy hat den Vietnam-Krieg begonnen, sagte ich. Und Kuba überfallen. Die Welt an den Rand eines Atomkriegs geführt.
    Ich hatte erwartet, dass Debbie nun aufbrausen, die USA als Schutzmacht der freien Welt gegen den Kommunismus verteidigen würde. Und hatte diese Politik nicht historisch recht behalten, okay? Aber sie sagte nichts, rauchte, sah ihr Glas an, ihre Augen sahen aus wie rot umrandet.
    Ich fragte mich, wann Debbie mir endlich die Gelegenheit geben würde, ihr zu sagen, dass ich mich von ihr trennen möchte. Ohne dass sie es als brutale Gefühllosigkeit in einer Situation empfinden würde, in der sie so besonders labil war und meiner Solidarität und Hilfe wie nie zuvor bedurfte.
    Plötzlich sagte sie: »Die Uhr tickt! Gnadenlos!«
    Sie sah mich an, sagte: »Ich werde bald vierzig. Das war vielleicht meine letzte Chance.«
    Ich durfte jetzt nicht gefühllos sein. Zugleich wünschte ich mir genau dies: gefühllos sein zu können – meine überreizten Nerven nicht zu spüren, das einschnürende Gefühl der Beengtheit nicht zu haben, mich nicht so hilflos zu fühlen, keine Aggressionen zu empfinden.
    Da kam eine junge Frau mit einer großen Sonnenbrille ins Lokal und sah sich um. Ich dachte sofort: Diese Frau wurde geschlagen. Diesen Gedanken hatte ich fast immer, wenn ich Frauen sah, die in Innenräumen Sonnenbrillen trugen. Sie schaute lange, die dunklen Gläser wie Scherben auf toten Augen. Dann kam sie her, begrüßte unseren Tischnachbarn mit Küsschen und sagte: »Hallo Ollie!«
    »Du sollst nicht Ollie sagen!«
    Sie hatte eine Tätowierung am Oberarm: da stand »Oliver«.
    Eine Kuh mit Brandzeichen! Dachte ich.
    »Verstehst du?«, sagte Debbie. »Verstehst du? Es beginnt ein neues Jahrtausend – und ich werde in den Wechsel kommen!«
    Ich sah hinüber zu Ollie und der Kuh. Die beiden waren –
    »Verstehst du mich nicht? Ich werde vierzig und –«
    Ich sah Debbie an. Es gibt wenig, das abstoßender ist als der Schmerz im Gesicht eines Menschen, für den man kein Mitgefühl mehr aufbringt. Ich sagte: Und wenn du neununddreißig werden würdest, was wäre anders? Oder achtunddreißig? Siebenunddreißig?
    Ich stand auf. Sechsunddreißig, sagte ich. Ich stützte mich auf dem Tisch auf und beugte mich zu ihr hinunter. Fünfunddreißig. Vierunddreißig. Ich richtete mich auf, warf einen Geldschein auf den Tisch. Dreiunddreißig, schrie ich. Oliver und sein Mädchen sahen mich erstaunt an. Zweiunddreißig. Na?
    Debbie machte begütigende Handbewegungen. Okay, sagte sie, okay!
    Ich spürte ein Glühen, ein heißes Licht in meinem Bauch. Ich ertrug es fast nicht. Ich wollte mich zusammenkauern. Oder den Tisch umwerfen. Jetzt, rückblickend, denke ich: Das war vielleicht die eingeschnürte Sehnsucht. Nach einem Kind. Das ich gewesen bin. Sehnsucht nach der Zeit, in der die amerikanische Brille eine Modetorheit war, vor allem aber ein Symbol für den Ausblick auf eine helle Zukunft. Ja, es war sicher diese Sehnsucht. Ich bin doch damals glücklich gewesen.
    Zweiunddreißig, sagte ich, ja, da vielleicht, da wäre es anders: Mit zweiunddreißig hättest du Nein sagen können. Zu mir. Nein. Einunddreißig – da hättest du …
    Ich zuckte mit den Achseln, drehte mich um und ging. Dreißig, neunundzwanzig, achtundzwanzig, siebenundzwanzig – als ich an der Tür des Gasthauses war, spürte ich die Hand Debbies an meinem Oberarm. Ich zog die Tür auf, sie krallte sich in den Stoff meines Sakkos, zog mich zurück. Ich sah sie an, sie schaute mich an, ihre Augen wie runde trübe Gläser.
    Das war ich nicht. So konnte ich nicht sein. Ich machte kehrt und setzte mich wieder mit ihr an den Tisch.
    Deborah und ich ließen uns eineinhalb Jahre später scheiden. Ich überließ ihr die Wohnung. Ich nahm eine Gastdozentur an der New York University an. Ich wollte nur weg von Wien. Ende August 2001 kam ich in New York an. Ich hatte das Gefühl, eine Lebenskatastrophe überstanden zu haben. Ich hatte die schönsten Aussichten.

Glück in Luxemburg
    Ein Tag in Luxemburg ist lang. Einstein muss die Idee zur Relativitätstheorie in Luxemburg gehabt haben. Dass die Zeit sich gleichsam zurücklappen kann. Ein Phänomen, das unverständlich ist, sich aber doch empirisch immer wieder bestätigt. In den

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