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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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lassen, Monsieur Ischl?
    Vergessen wir das! Ich hätte es vergessen, wenn dann nicht der November 1989 gekommen wäre. Da lernte ich wirklich, was Geschichte ist. Da erlebte ich mit der Befreiung der Menschen vom Stalinismus meine eigene Befreiung. Das Umstülpen des Denkens, des Wissens, der Realität in meiner bewussten Lebenszeit. Was anderes ist ja ein historisches Ereignis nicht, oder? Jetzt, endlich, doch noch, hatten wir, die wir zu spät gekommen waren für die Achtundsechziger, unser eigenes großes Geschichtserlebnis. Wir sind, wenn wir vernünftigerweise etwas sind, Neunundachtziger. Mit diesem Jahr haben unsere Biographien Wurzeln in der Geschichte geschlagen, ist unser Denken Epochendenken geworden.
    Pathos, mein Freund, aber du hast recht.
    Ja. Und jetzt kommt es, was ich erzählen wollte: Egal, wie alt »ich« heute bin, »ich« ist ein Neunundachtziger, der sich ein paar Jahre älter machen kann, mit der einsichtigen Entschuldigung, dass er schon sehr viele Jahre älter ist. Weißt du, wo ich mich in der Nacht vom 9. auf den 10. November 1989 befand?
    Vor dem Fernseher, nehme ich an!
    Genau! Ich saß vor dem Fernsehapparat und konnte mich nicht losreißen von diesen Bildern, die den massenhaften Triumph des Individuums zeigten. Der Sturm der Berliner Mauer. DAS war eine Erstbesteigung! Das Hinaufklettern in eine Höhe, die noch am Tag davor den sicheren Tod bedeutet hätte. Eine Masse, aber das ist ein falsches Wort, ein Gesicht, das massenhaft das Gesicht jedes befreiten Menschen wurde, ein Gesicht, das Ja gesagt hatte, weil es sich zu einer Zukunft entschlossen hatte, stöhnte und weinte. Es war meine Hochzeitsnacht.
    Wie bitte?
    Ja. Meine Hochzeitsnacht. Es passierte in dieser Nacht weiter nichts. Meine große Liebe, die soeben meine Frau geworden war –
    Elisabeth?
    Ja. Elisabeth und ich, wir saßen in einem Hotelzimmer vor dem Fernsehgerät und starrten auf diese Bilder. Es war unsere späte und glückliche Vermählung mit Zeitgenossenschaft.
    Und dann?
    Ich bin schon am Ende: Am nächsten Tag verließen wir, ziemlich verquollen von den Tränen und gehörig Champagner, die Hochzeitssuite, verließen das Hotel – wir hatten in Bad Ischl geheiratet, ja, in Bad Ischl, weil – warum? Ich hatte den Beginn meines Erwachsenenlebens mit meiner Kindheit versöhnen wollen. Und dieses Kaiserstädtchen meiner Kindheit, hatte ich gedacht, war für diesen Anlass der richtige Ort, und viel schöner als jedes muffige Wiener Standesamt. Wie dürftig das aber plötzlich war, an diesem Tag, da meine Generation sich mit der Geschichte versöhnen sollte. Es hatte stark geschneit in der Nacht, und wir stapften den Kai entlang, nicht in Zeitlupe, auch nicht mit der Bedächtigkeit von Veteranen, sondern in Echtzeit, hinüber zur »Kaiserpromenade«, und alles hatte seine Bedeutung verloren, oder eine andere bekommen. Wir stapften durch den Schnee von gestern – und waren die Ersten, die darin ihre Eindrücke hinterließen.
    Schön!, sagte Michel. Wirklich schön. Trinken wir noch was!

Romantische Irrtümer
    Früher erzählte ich gerne. Ich erlebte ja auch einiges auf meinen Reisen. Ich konnte meine Freunde und Bekannten stundenlang mit meinen Geschichten unterhalten, und was mich selbst dabei am meisten entzückte, war, wie sich das Leben, das ich führte, bloß durch das Erzählen verbesserte. Ereignisse, die mich in Wahrheit hochgradig irritiert hatten, wurden, wenn ich sie berichtete, komisch, schrill, erheiternd. Was mich in Wirklichkeit gelangweilt hatte, wurde, nur geringfügig ausgeschmückt, zu einem spannenden Abenteuer, Zufälle erschienen bedeutsam, Banalitäten wurden lehrreich. Mein Leben, so austauschbar und ermüdend es auch war, bekam, wenn ich es erzählte, etwas Reiches und Buntes, geradezu Beneidenswertes, an das ich manchmal sogar selbst glaubte. So war ich mit meinem Leben einigermaßen zufrieden.
    Es war auf der Rückreise von Dresden, als mir plötzlich klar wurde, dass der Reichtum, den ich erzählend ausbreitete, eine Lüge war. Dass ich im Grunde immer dieselbe dürftige Geschichte erzählt hatte. Nur die »Handlung« waren jedes Mal eine andere, die sogenannten Erlebnisse, und eben dadurch zeigte sich, wie beliebig es war, das Erlebte, das Leben. Ich saß im Flugzeug und war müde. Ich dachte »todmüde« und hatte dann nur noch dieses Wort im Kopf, das so banal war und zugleich so erschreckend. Ich hatte darüber hinaus minutenlang keinen Gedanken. Deswegen dachte ich dann wohl das Wort

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