Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
Vom Netzwerk:
»hirntot.« Ich war, dachte ich, hirntot. Da war er noch einmal, der Tod. Dann dachte ich »lebensmüde«. Und das war im Grunde die eine Geschichte: Ich bin in Dresden mit einem Lebensmüden verwechselt worden und habe dadurch erst begriffen, dass ich es wirklich bin. Dass ich gefährdet bin. Dass alle meine Geschichten im Grunde nur Varianten immer derselben Geschichte waren, nämlich der Versuch, ein verstümmeltes Leben mit Phantomschmerzen zu versehen: etwas zu spüren, das nicht da ist. Das Existentielle im Lächerlichen.
    Ich war am Vortag, ausgerechnet im »Hotel zur Sonne« in Weimar, vor Sonnenaufgang aufgewacht, nicht weil ich aufs Klo musste, sondern aus Scham, aus einer unerträglich brennenden Lebensscham, und sofort begann das Herz so stark zu schlagen wie ein Trommler im Karneval oder im Krieg. Es war aussichtslos, ich konnte nicht wieder einschlafen. Ich stand also auf, zog den Vorhang zur Seite und schaute aus dem Fenster, und da war nichts, Dunkelheit mit einigen wenigen Lichtpünktchen, Nachtruhe, Nachtfriede.
    Wenn der Tag erwacht / bevor die Sonne lacht …
    Das war nur ein schnelles Auflodern, ein kurzes aggressives Knistern in meinem Kopf, als wäre ein Blatt mit diesen Worten ins Feuer gefallen, aufleuchtend und sofort schwarz werdend zerfiel es in nichts.
    Da war kein Aschenbecher. Ich hatte mir eine Zigarette angezündet, aber ich fand keinen Aschenbecher im Zimmer, ich suchte, öffnete schließlich die Minibar, nahm ein Weinglas und ließ die Asche hineinfallen. Ich kniete vor der Minibar, rauchte und starrte die Getränke an. Ich sah auf die Uhr. Es war fünf. Es war verrückt, ich wusste, dass es verrückt war und dass ich es bereuen würde, aber ich sagte mir, dass ich vielleicht doch noch schlafen könnte, wenn ich jetzt etwas trank. Ich warf die Zigarette ins Glas, sie brannte weiter, ich schüttelte das Glas, aus dem nun Rauch aufstieg wie aus einem Weihrauchkessel. Ich öffnete ein Fläschchen Rotwein, schüttete ein wenig in das Glas, um die Zigarette zu löschen, legte mich wieder ins Bett, trank aus dem Fläschchen, rauchte. Der Wein half nicht. Ich stand wieder auf, ging ans Fenster. Ich wollte schlafen. Ich trinke nie Schnäpse. Ich trank Wodka aus der Minibar. Das Brennen im – ja: Sonnengeflecht wurde nicht besser. Das Konzentrationslager. Buchenwald. Ich hätte es nicht besuchen dürfen. Nicht mit meiner Familiengeschichte. Und nicht beschwipst, nach dem Geschäftsessen, und schon gar nicht, nachdem ich nach dem Essen zu Herrn Schwitters diesen furchtbaren, geistlosen, diesen entsetzlichen Satz gesagt hatte. Er hatte mich gefragt, wie lange ich noch in Weimar bliebe. Ich sagte, dass ich am nächsten Morgen abreisen würde. Es war diese blöde Smalltalk-Situation, wo man sich nach einer harten Verhandlung wieder förmlich menschlich gibt. Was ich also an diesem Nachmittag in Weimar noch vorhätte?
    Herr Schwitters hatte bei diesem Essen ein Glas Wein getrunken, ich drei. Das erklärt manches, nicht alles. Ich bin alert gewesen. Das Geschäft war zu Bedingungen, die mich völlig zufriedenstellten, abgeschlossen worden. Er war mir unsympathisch. Das erklärt gar nichts. Man merkte, dass er selbst begeistert davon war, wie gut er funktionierte. Das erklärt absolut nichts. Ich schätzte ihn auf unter dreißig. Einer dieser schlaksigen Jünglinge in dunkelgrauen Anzügen und pomadisiertem Haar, die zur Zeit der Wende im Kindergarten gespielt hatten und nun so taten, als hätten sie den Kapitalismus erfunden. Ich wollte ihn – schockieren ist ein zu großes Wort, ich wollte ihm jedenfalls nicht die naheliegende Antwort geben: Goethe-Museum, Schiller-Museum, und darauf eine abschließende Phrase von diesem literarischen Analphabeten hören müssen. Also zuckte ich die Achseln und sagte: Ich werde ins KZ gehen und dort die Zeit totschlagen.
    Egal, was ich gesagt hätte, Herr Schwitters hätte mir daraufhin einen schönen Tag gewünscht. Der Satz war in seinem Mund schon vorbereitet, und sofort purzelte er heraus: Also dann, einen schönen Tag noch!
    Aber irgendwie, das war ihm anzusehen, war er irritiert, und ich wusste, ich hatte ihn unterschätzt. Vor allem aber wusste ich augenblicklich: Ich hatte nicht so sehr ihn schockiert, und wenn, dann war es unerheblich, sondern ich hatte mich selbst schockiert. Das hatte ich nicht sagen wollen, das hätte ich nicht sagen dürfen, das war völlig wahnsinnig: Zeit totschlagen im KZ.
    Da begann es zu brennen, und ich versuchte, dieses

Weitere Kostenlose Bücher