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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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was auf dem Teller war.
    Dann ging ich ins Hotel zurück, übergab mich, ruhte mich kurz aus, duschte sehr lange. Endlich war es so weit, dass ich ein Taxi rufen konnte, um zu Herrn Nickwitz zu fahren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie ich die Verhandlung einigermaßen geglückt hinter mich bringen konnte. »Es« verhandelte, ich war lediglich der Tonträger. Ich weiß nur noch, dass Herr Nickwitz ein sehr kleiner Mann in einem sehr großen Besprechungszimmer war. Den Krawattenknoten hatte er so fest gezurrt, dass ihm die Haare zu Berge standen. Im Grunde ist das meine ganze Erinnerung: dass ich ihn verachtete und immer wieder aus dem Fenster schaute. Ich verachtete ihn allerdings nicht aus physischen oder ästhetischen Gründen, sondern deshalb, weil ich den Eindruck hatte, dass dieser ehrgeizige und gierige Mann noch nie an den Tod gedacht hatte. War er überhaupt schon einmal bei einem Begräbnis gewesen? Ja, und wenn. Dann war es für ihn doch auch nur der Beweis, dass der Tod immer nur andere traf.
    Durch die großen Fenster des Besprechungszimmers sah man die Elbe und das jenseitige Ufer. Ganz leise, fast wie das Schnurren einer schläfrigen Katze, hörte ich das Geräusch von Motorsägen. Dort drüben, auf der anderen Seite der Elbe wurde ein riesiger alter Baum gefällt. Er fiel. »Nu«, sagte Herr Nickwitz und schüttelt mir die Hand. Noch einmal: »Nu«. Er war kein Meister der Floskeln.
    Ich hätte zu Fuß zum Hotel zurückgehen können, aber ich nahm ein Taxi. Kurz bevor wir das Hotel erreichten, sagte ich zu dem Fahrer, er solle weiterfahren bis zur Brücke. »Zum Blauen Wunder?« Ja, sagte ich, zum Blauen Wunder. Ich hatte immer noch mehr als zwei Stunden Zeit bis zum Feuersturm.
    Sie wurden gefragt. Wollt ihr den totalen Krieg? Sie haben mit Ja geantwortet. Ja! Und sie haben ihn bekommen.
    Ich ging über die Brücke, blieb auf halbem Weg stehen, lehnte mich ans Geländer und schaute. Es regnete nicht mehr. Alles glänzte.
    Ich sah die Elbe, wie sie frei und stolz – ich hatte augenblicklich diese pathetischen Wörter im Kopf – zwischen Wiesen und Hügeln floss, in ruhiger, fast zärtlicher Naturgewalt, vorbei an unbefestigten Böschungen, weiten Wiesen, mitten in einer Großstadt, deren Dächer und Kuppeln wie Hüte wirken, mit denen die stolzesten Menschen ihr Haupt bedecken vor Gott. Hänge, Wege, vor Schönheit fast verzitternd. Sanft wie Tiere gehen die Berge neben dem Fluss.
    Deutschland ist ein romantisches Land. Ich war wirklich ergriffen, als ich diesen Gedanken hatte: Deutschland ist in Wahrheit ein romantisches Land. Die Klassik war ein Irrtum. Der auftrumpfende Gestus der Vollendung, von Weimar über Bauhaus, Speer, in den Faschismus. Weimar, Buchenwald – ein Irrtum. Das Wilde, Ungezähmte, das sich in die Schönheit fügt, Dresden, die Elbe, ist die Wahrheit, die Ort gewordene Sehnsucht.
    Mir wurde kalt. Ich ging zurück ins Hotel. Ich hatte immer noch eineinhalb Stunden zu überbrücken.
    Sie wurden gefragt. Sie haben aus vollen Kehlen mit Ja geantwortet. Ich habe kein Mitleid. Sie haben es so wollen. Wir nicht. Wir waren in Coventry. Wir Kinder wurden evakuiert. Mich interessieren die Wunden von Dresden nicht. Ich habe die Trümmer gesehen, die übrig blieben vom Haus meiner host parents. Das waren anständige Menschen. Sie haben mich Wiener Judenkind aufgenommen. Sie haben mich geliebt wie ein eigenes Kind. Sie waren nie in ihrem Leben in der Oper. Sie gingen in keine Gebäude mit goldenen Kuppeln. Sie gingen in die Fabrik. Da war viel Ruß und Staub. Diese ungeheure Anstrengung eines Lebens in Anstand. Ich weiß, was Mitleid ist. Ich habe kein Mitleid mit Dresden.
    Es war schon wieder Essenszeit. Ich aß im Hotel eine Kleinigkeit, Sächsische Kartoffelsuppe, starrte vor mich hin. Ich war völlig kraftlos, aber gleichzeitig war etwas in mir ganz stark angespannt, schmerzhaft, zum Zerreißen. Dann ging ich in mein Zimmer und schaute mir die Bombardierung Dresdens an. Ich aß dabei Nüsschen, weil ich einfach nicht widerstehen kann, wenn ich in der Minibar eines Hotelzimmers welche finde. Ich hasste mich. Es war völlig irrational. Ich hatte eben erst abendgegessen, war ohne Hunger, und stopfte dennoch diese Nüsschen in mich hinein, die meinen Körper sinnlos verwüsten. Dazu trank ich die beim Abendessen begonnene Flasche Wein leer, während ich zusah, wie der Feuersturm fast die ganze Stadt zerstörte.
    Sie wurden gefragt. Sie wollten den totalen Krieg, sie wollten ihn. Nichts

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