Ich kann jeder sagen
Gefühl zu ersticken, so wie man eine Decke auf ein Glutnest wirft, aber es rauchte nur immer mehr. Ich war dann in Buchenwald, ja. Und ich spielte im Gedanken immer wieder diese Szene mit Herrn Schwitters durch, versuchte sie mir gleichsam so plastisch zu vergegenwärtigen, dass sie noch einmal wirklich wurde und ich wieder in sie eingreifen und sie verändern konnte. Ich erzählte mir, was er gesagt hatte, dann, was ich gesagt hatte, dann wieder, was er gesagt hatte, bis ich zu dem Moment kam, wo ich meinen wahnsinnigen Satz sagte – und sagte jetzt aber einen anderen, oder wieder einen anderen, ich suchte nach immer neuen Sätzen, die ich gesagt haben könnte oder sagen hätte sollen, um meine Erinnerung zu überreden, zu zwingen, sich einen anderen Satz als den wirklich gesagten zu merken. Aber es half nichts. Es begann zu glosen, immer stärker zu rauchen.
Ich stand auf und ging wieder zum Fenster. Der schwarze Himmel bekam Konturen. Es war eine dunkle Regenwolkendecke, die sich im ersten Tageslicht zeigte. Es würde regnen, na und? Ich wollte schlafen. Ich ging zur Minibar. Was gab es da noch? Kein Wodka. Whisky. Vielleicht würde ich dann in Ohnmacht fallen. Ich legte mich auf das Bett, trank und rauchte. Ich hatte keinen klaren Gedanken mehr. Es begann zu regnen. Ich habe es ja gewusst. Seltsam, wie lange ich brauchte, bis ich begriff. Ich lag nackt im Bett, und es regnete. Ich grinste, nackt im Regen – und plötzlich: die Panik, und keine Fluchtmöglichkeit. Da war schon das Schlagen von Fäusten an meiner Zimmertür. Ich ließ die Männer mit den Feuerlöschern herein. Beruhigte sie. Ich hatte durch das Rauchen die Sprinkleranlage über dem Bett ausgelöst.
Das war der Grund, weshalb ich den Zug um 9 Uhr 51 nahm. Ich hätte auch schon den um 7:51 nehmen können, aber da gab es im Hotel noch die Formalitäten zu erledigen.
Nein, ich war nicht depressiv, als ich nach Dresden kam. Ich war alles Mögliche, aber ich hätte nicht gesagt depressiv. Es war sogar so, dass mich noch immer Dinge aus bloßer Gewohnheit erheiterten: wenn ich mir vorstellen konnte, sie später ausgeschmückt und pointiert zu erzählen. Im Zugabteil saß mir ein Mann gegenüber, der ein Buch las, und ich versuchte herauszufinden, welches. Aber er hielt das Buch so, dass ich den Titel nicht sehen konnte. Er war etwas jünger als ich, sehr teuer gekleidet, und er wirkte nicht wie ein geübter Leser. Sein Gesichtsausdruck, seine gerunzelte Stirn machten einen allzu angestrengten Eindruck, so als würde er eine Gebrauchsanleitung lesen. Da legte er das Buch ab, verließ das Abteil, und ich sah: »Zwei Fremde im Zug« von Patricia Highsmith.
Der Mann kam zurück, las weiter, und schon erreichten wir Leipzig, wo ich umsteigen musste.
Zu Mittag kam ich in Dresden an, und in denkbar schlechtem körperlichen Zustand. Im Taxi vom Bahnhof zum »Hotel am Blauen Wunder« döste ich, sah nichts von der Stadt. Ich hatte den nächsten Termin um vier. Und die Bombardierung Dresdens sollte um Viertel nach acht beginnen. Ich war übermüdet, schlaflos, zittrig. Und musste wieder so viel Zeit – überbrücken. Das flaue, leicht brennende Gefühl im Magen.
Ich verlangte ein Raucherzimmer. Die Raucherlaubnis war das Geschmackvollste an diesem Zimmer. Ich stellte den Koffer ab und verließ das Hotel. Um die Ecke sah ich ein Lokal, »Schillergarten«, und ich beschloss, etwas zu essen. In Weimar hatte ich das Schiller-Haus nicht besucht, aber nun saß ich in Dresden im »Schillergarten«. Mich erheiterte nichts mehr. Ich aß, obwohl ich merkte, dass es mir nicht gut tat. Ich esse grundsätzlich zu viel. Es ist sozusagen der Versuch von Sinngebung im Sinnlosen. Wer immer wieder sehr viel Zeit – ja, verdammt noch einmal: Totschlagen muss, das war ja das Problem: totschlagen, ich musste immer wieder viel zu viel Zeit in meinem Leben totschlagen – der geht immer wieder essen. Der nutzt jede Essenszeit, um zu essen. Man sitzt da und isst, und macht vor sich selbst und vor den anderen den Eindruck eines Menschen, der etwas Sinnvolles, zumindest Notwendiges tut: Essen muss der Mensch. Man quält sich, aber essend quält man sich immerhin im Anschein von Normalität. Ich hatte die Spezialität des Hauses, sächsischen Sauerbraten bestellt. Alles in mir rebellierte, während ich aß. Der Sauerbraten schmeckte süß, aber stieß dann sauer auf.
Ich komme aus einer Familie, die die Erfahrung des Hungers hatte. Ich habe im Überfluss gelernt, alles zu essen,
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