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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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habe ich ihr erzählt? Wir haben getrunken! Wodka? Haben wir getanzt? Ich glaube, wir haben getanzt, zumindest habe ich sie gehalten und ihr Lachen gehört an meinem Ohr.
    Irgendwann wurde ich durch eine Berührung geweckt. Ich schlug die Augen auf und sah das Gesicht einer Frau, nicht unhübsch, allerdings etwas grob und rotgefleckt. »Aufstehen!«, sagte die Frau. Ich schloss die Augen. Wo war ich? Wer war sie? Ich hatte höllische Kopfschmerzen. Was hatte ich in der Nacht –
    »Es ist zwölf durch!«
    Erinnerung. Radfahrerin … Ich bin mit ihr … Habe ich … ist sie …? Ich schaute diese Frau an. Ich – kannte sie nicht. Rita? Ich suchte verzweifelt in mir einen Rest von romantischer Gestimmtheit, aber –
    »Bitte! Sie haben das Zimmer bis elf. Sie müssen da raus! Es ist zwölf durch. Ich muss da saubermachen!«
    »Noch ein Wort«, sagte ich, »und ich springe vom Blauen Wunder in die Elbe!«
    »Gute Idee!«, sagte sie.
    Mühsam stand ich auf. Stand nackt vor ihr. Sie war unbeeindruckt.
    »Dann springen Sie mal. Mir ist egal, wie Sie abreisen. Aber ich muss da mal saubermachen!«
    Im Taxi zum Flughafen.
    »Sind Sie zum ersten Mal in Dresden?«
    Ich mag keine Taxifahrer, die quatschen.
    »Ja!«
    »Gefällt Ihnen die Stadt?«
    »Ja.«
    Ich saß wehrlos im Wagen, und der Fahrer erzählte. Er sei als Jugendlicher nach Dresden gekommen. Aus Hannover. Ich sagte nichts. Aus Hannover, wiederholte er.
    »Aus dem Westen in den Osten – verstehen Sie?«
    »Ja.«
    »Das versteht keiner!«
    »Ja.«
    »Sie verstehen mich nicht. Ich sagte: Ich kam aus Hannover. Nach Dresden. Vom Westen in den Osten. Das Gegenteil von –«
    »Ich habe verstanden!« sagte ich. »Und warum?«
    »Ich wollte Weltmeister werden.«
    »Weltmeister?«
    »Ja. Im Rudern.«
    »Ja.«
    »Ich dachte, Sie würden jetzt fragen: Und in Hannover kann man nicht rudern?«
    »Ja. Kann man nicht?«
    »Doch! Aber wenn man Weltmeister werden will! Dann muss man nach Dresden!«
    »Warum?«
    »Die Elbe. Das Wasser der Elbe ist dick. Es gibt keinen Fluss, der so dickes Wasser hat. Wer auf der Elbe trainiert, für den ist jeder andere Fluss nichts, man kann dann auf jedem anderen Wasser den Riemen durchziehen wie nichts, verstehen Sie? Wer auf der Elbe schnell ist, ist überall der Schnellste.«
    »Was heißt dick?«
    »Dick. Das Elbewasser ist dicker als jedes andere. Das spürt man. Die Elbe ist anders, ist einzigartig. Es gibt keinen Strom, der so dick ist. Warum dürfen Deutsche nicht auf der Themse rudern? Wäre peinlich für Oxford und Cambridge, verstehen Sie?«
    »Nein!«
    »Ist aber so. Und außerdem war da Theo Körner!«
    »Theodor Körner?«
    »Theo Körner! Der beste Rudertrainer der Welt. In den Sechzigern. Da wollte ich her. West, Ost, das hat mich nicht interessiert. Ich war jung. Rudern hat mich interessiert.«
    »Und?«
    »So bin ich eben hergekommen. Nach Dresden. Von Hannover.«
    »Und?«
    »Gold in Montreal, sechsundsiebzig. Im Achter. Ich wollte mich ursprünglich im Einer entwickeln, aber das wurde nicht gefördert. DDR. Verstehen Sie? Da war das Kollektiv wichtig. Na gut. Gold im Achter.«
    »Sie haben eine Goldmedaille? Bei Olympischen Spielen?«
    »Sage ich doch. Sechsundsiebzig, im Achter.«
    »Gratuliere!«
    »Aber das mit dem Weltmeister wurde nichts. Ich wurde plötzlich krank.«
    »Krank?«
    »Ja. Bin heute Invalide. Deswegen fahre ich Taxi. Morbus Reiter.«
    »Wie bitte?«
    »Morbus Reiter. Ist das nicht verrückt? Ich bin Ruderer und bekomme den Morbus Reiter. Hat aber nichts mit Reiten zu tun. Heißt nur so. Der Arzt hieß wohl Reiter. Aber verrückt ist es doch.«
    »Was ist das für eine Krankheit?«
    »Die Gelenke entzünden sich, schwellen an, werden steif. Ende vom Rudern. Verstehen Sie?«
    »Ja.«
    »Gar nichts verstehen Sie. Ich saß dann mit einer Goldmedaille um den Hals in der Scheiße. Nicht in Hannover. In Dresden.«
    »Ich verstehe.«
    »Na dann. Guten Flug!«
    Ich zahlte. Er stieg aus und öffnete den Kofferraum.
    Ich nahm den Koffer heraus. Sah den Fahrer an. Er musste etwa so alt sein wie ich.
    Dann saß ich im Flugzeug und dachte – wie gesagt: nichts.

Die neuen Leiden des
fremden Freunds
    »In zehn Jahren werde ich gefragt werden, ob ich mich erinnern kann, wo ich heute Nacht gewesen bin. Ich muss mir merken: hier! Und ich werde gefragt werden, was ich gerade gemacht habe. Niemals vergessen: dies!«
    Diese Tagebucheintragung von der Nacht auf den 10. November 1989 sollte sich nicht ganz bewahrheiten. Denn zehn

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