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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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Jahre später, im November 1999, befand sich Deutschland in so großer Aufregung wegen der nahenden Jahrtausendwende, dass die Erinnerung an den zehnten Jahrestag des Falls der Berliner Mauer davon fast verdrängt wurde. Nicht pathetische Erinnerungen an den Zusammenbruch der DDR, sondern nervöse Spekulationen über den Zusammenbruch aller Computer beschäftigten die Medien. Das Problem hieß »Y2K«, und dieses Kürzel bezeichnete die Gefahr, dass die weitgehend computergesteuerte Welt mit dem Wechsel ins Jahr 2000 (für die Computer ein Übergang zur Ziffernkombination 00, Synonym für »Nichts«) abstürzen könnte, das Internet und die Flugzeuge, und, schlimmer noch, die Börsen und der Welthandel.
    »Die Mauer« war ein analoges Phänomen gewesen – mit »Y2K« hat die westliche Welt die entsprechende Erfahrung digitalisiert und postmodern wiederholt: die hysterische Angst vor dem Zusammenbruch des Systems. Damit erst war Deutschland nach der Implosion des real existierenden Sozialismus endgültig in die virtuelle Welt eingetreten.
    Dass im Jahr 1999 Firewalls die Menschen mehr beschäftigten als die längst verschwundene Mauer, ist daher verständlich: Was ist schon der Fall einer Mauer gegen den Fall der Börsen? Wie bedeutsam ist ein historisches Datum neben Zukunftsoptionen und Termingeschäften? Was ist die Erinnerung an eine verschwundene Bedrohung im Vergleich, oder zeitgenössisch formuliert: in Konkurrenz mit einer akuten Bedrohung?
    Wiederum zehn Jahre später ist nun »Y2K« vergessen. Auch das ist nicht verwunderlich: In der virtuellen Welt ist das gesellschaftliche Gedächtnis kein Speicher.
    Ich habe mein Tagebuch.
    »Wenn ich einmal gefragt werden sollte, wie ich den Beginn des sogenannten neuen Millenniums erlebt, was ich gemacht habe, werde ich nichts sagen können, oder nur, so ich mir diesen Satz merke: Es war zum Vergessen!«
    Am 31. Dezember 1999 war mir das Bargeld ausgegangen. Die Banken waren geschlossen, die Bankautomaten wegen »Y2K« vorsorglich ausgeschaltet. In den Geschäften bildeten sich lange Schlangen. Von Konsumenten, die nicht konsumieren konnten. So viele Waren, aber kein Bargeld. Die Menschen sahen nicht ein, dass sie nicht mit Karte bezahlen konnten. Die Terminals waren stillgelegt. Die Geschäftsleute rauften sich die Haare. Das Geschäft, auf das sie gewartet hatten, konnten sie nicht machen. Wir standen ohne Begrüßungsgeld vor den Auslagen einer neuen Epoche. Vergessen? Vergessen.
    »Das gehört nicht hierher!«, sagte mein Berliner Freund Konrad-Otto und schaltete das Tonbandgerät ab. Es tut mir leid, sagte ich, aber es fiel mir eben ein. Kannst du dich noch an »Y2K« erinnern? »Nein«, sagte er. »Doch! Ja, sicher!« Es interessierte ihn nicht.
    »Hör zu«, sagte er, »es geht jetzt nur um die Nacht, in der die Mauer fiel. Wo warst du da, was hast du gerade getan, was waren deine Gefühle, woran kannst du dich erinnern? Kurz und prägnant. Alles klar?«
    Ja, sagte ich.
    »Kann ich wieder einschalten?«
    Konrad-Otto arbeitete für Radio Berlin-Brandenburg. Er bereitete einen Beitrag für den zwanzigsten Jahrestag der Maueröffnung vor. Kennengelernt hatte ich ihn just in der Zeit, als sich die Mahlsteine der Geschichte in Bewegung setzten, über die wir nun sprachen: Anfang September 1989, bei einem Symposium über »Entwicklungstendenzen der neuen deutschsprachigen Literatur« an der Universität Budapest in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut. Er, der sich in dieser Zeit noch Hoffnungen auf eine akademische Karriere machte – er war damals Assistent am Germanistischen Institut der TU Berlin –, sprach über »DDR-Literatur«. Ich war eingeladen, um über »Die sozialpartnerschaftliche Ästhetik – das Österreichische an der österreichischen Literatur« zu referieren.
    Konrad-Ottos These war pfiffig und frech. Er bezeichnete die DDR als den größten Schriftstellerverband der Welt, als Autorenrepublik. Millionen Menschen seien dazu angehalten und würden dazu ermuntert und gedrängt, wie Schriftsteller zu arbeiten: zu beobachten, zuzuhören, nachzufragen, Material zu sammeln, zu recherchieren, und dann alles in eine schriftliche Form zu bringen und zu erzählen. Dies habe die realistische Literatur revolutioniert und eine neue, avancierte literarische Form hervorgebracht, deren strukturelles Grundmuster die Stasi-Akte sei. Die bekanntesten Werke der DDR-Literatur, wie zum Beispiel »Mutmaßungen über Jakob«, »Nachdenken über Christa T.«, »Die

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