Ich kann jeder sagen
Konrad-Otto auf Band: Meine erste Reaktion, als ich die Bilder von der Maueröffnung im Fernsehen sah und mir klar wurde, dass dies unvermeidlich zur Wiedervereinigung führen musste, war, dass ich mich aufgeregt daranmachte, mein Briefmarkenalbum zu suchen.
Ich merkte, wie Konrad-Otto kurz mit dem Gedanken spielte, das Tonbandgerät wieder abzuschalten, aber dann fragte er doch: »Warum? Was hat dein Briefmarkenalbum mit dem Fall der Mauer zu tun?«
Ich war zehn Jahre alt, erzählte ich, es muss das Jahr 1964 gewesen sein, als ich, so wie damals viele Kinder in diesem Alter, begann, Briefmarken zu sammeln. Ich ordnete sie in meinem Album nach Nationen: Österreich, Deutschland, England, Frankreich und so weiter. Es brauchte einige Zeit, bis ich beim Einordnen neuer Eroberungen, die ich eingetauscht hatte, erkannte, dass die »Deutschland«-Marken innere Unterschiede aufwiesen, so, dass sie zwei Gruppen bildeten: die bunteren, ästhetisch irgendwie lieblicheren, auf denen »Deutsche Bundespost« stand, und die etwas farbloseren, ästhetisch strengen, zugleich surrealen (im Zentrum ein dreibeiniger Hammer!), auf denen »Deutsche Demokratische Republik« stand. Die »Deutschland«-Abteilung in meinem Album zerfiel in zwei Lager, und auch wenn es mir nicht gleich aufgefallen war, nun konnte ich es nicht mehr übersehen.
»Nein«, sagte mein Vater. »Das ist kein dreibeiniger Hammer, sondern ein Hammer und ein Zirkel!« Und er erklärte mir, dass es zwei Deutschlands gab, zwei verschiedene deutsche Staaten. Ich glaubte damals meinem Vater alles, mehr noch: Was er sagte, war für mich gleichbedeutend mit einem Naturgesetz – aber zwei Deutschlands? Das stürzte mich in tiefe Verwirrung, das erschien mir unglaubwürdig und völlig unverständlich. Es war, als hätte er gesagt, dass ich zwei leibliche Mütter hätte oder dass Horst Nemec nicht nur für die Wiener Austria, sondern auch für Rapid spiele. Das ergab keinen Sinn, das konnte nicht sein.
Tagelang überlegte ich, meine Deutschland-Marken zu trennen und in meinem Album zwei Deutschlands anzulegen. Ich hielt ja auch England und Schottland auseinander, obwohl sie zusammen das Vereinigte Königreich bildeten – aber Deutschland und Deutschland? Ich zupfte mit meiner Pinzette im Album herum, steckte Marken da- und dorthin, sortierte sie auseinander, aber dann beschloss ich, die beiden Deutschlands doch wieder zu vereinigen, die Marken in Frieden und Eintracht beisammenzulassen. Die Entscheidung wurde mir dadurch erleichtert, dass ich just in dieser Zeit zum ersten Mal fernsehen durfte. Mein Onkel, ein wohlhabender Import-Export-Kaufmann, war der Erste in der Familie, der einen Fernsehapparat hatte. Und ich durfte zu ihm gehen, um mir Übertragungen von den Olympischen Spielen anzusehen. Deshalb weiß ich auch, dass es das Jahr 1964 war: Da fanden die Olympischen Spiele in Tokio statt.
Hätte ich nicht gerade das Problem mit meinem Briefmarkenalbum gehabt, es wäre mir vielleicht gar nicht aufgefallen. Aber so bekam es für mich eine enorme Bedeutung und blieb unvergessen: Sportler aus beiden Deutschlands traten als gemeinsame Mannschaft an: »Vereinigtes Deutschland«.
Die Mauer wurde 1961 gebaut, sagte ich zu Konrad-Otto, und drei Jahre später gab es bei den Olympischen Spielen ein vereinigtes Deutschland.
»Du spinnst«, sagte Konrad-Otto, »das kann nicht sein.«
Doch. Ich kann mich erinnern. Das olympische Länderkürzel der beiden deutschen Staaten lautete EUA – »Equipe unifiée d’Allemagne«. Und die gemeinsame Hymne war übrigens Beethovens Neunte, die Ode an die Freude – die beiden deutschen Staaten traten also als EU an, mit der heutigen Europahymne! Ist das nicht irre?
»Ich glaube dir kein Wort«, sagte er.
Du kannst ja zu Hause googeln, sagte ich. Jedenfalls: Ich dachte damals, dass mir diese Vereinigung das Recht gibt, auch in meinem Briefmarkenalbum die beiden Deutschlands zu vereinigen. Deshalb kann man nach 1989 füglich von »Wiedervereinigung« reden. Und das ist auch der Grund, warum ich in der Nacht, als die Mauer fiel, mein altes Briefmarkenalbum suchte. Du hast mich nach meinen Gefühlen gefragt. Nun, ich fühlte mich, als ich mein Album wiederfand, von der Geschichte bestätigt.
Konrad-Otto schaltete das Tonbandgerät ab, sagte: »Ganz im Ernst, die Geschichte vom vereinigten Deutschland bei der Olympiade stimmt?«
Ja, sagte ich, es war alles schon angelegt. Schau dich an!
»Mich anschauen? Was meinst du?«
Wer war
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