Ich kann jeder sagen
deutscher Kanzler, als du zur Welt kamst?
»Konrad Adenauer.«
Und wer war DDR-Ministerpräsident?
»Weiß ich nicht.«
Otto Grotewohl.
»Das ist mir noch nie aufgefallen«, sagte Konrad-Otto. Es war ihm eine leichte Rührung anzumerken. Tja, sagte ich, das ist wohl charakteristisch für die deutsch-österreichische Freundschaft: Wir kennen eure Geschichte, und ihr glaubt uns unsere.
Wir tranken unser Bier schweigend, schließlich sagte Konrad-Otto: »Du hast es wirklich noch, dein Briefmarkenalbum?«
Nein, sagte ich. Ich habe es meiner Tochter geschenkt, als sie zehn war und zu sammeln begann. Das war im Jahr 2000. Sie hat alle meine Marken in ihre Sammlung eingeordnet und – weißt du, was sie in ihrer pedantischen Art zu mir gesagt hat? Papi, du hast ja zwei Länder, BRD und DDR, vermischt und zu einem gemeinsamen Kapitel gemacht. Ist dir das nie aufgefallen? Typisch!
»Und?«
Sie hat die Marken dann säuberlich getrennt.
»Was will uns das sagen?«
Zwei Bier!
Aufklärung kommt vor dem Fall
Als ich an jenem 11. September mit Pflastersteinen auf Polizisten warf, hätte ich es nie für möglich gehalten, dass ich einmal selbst Polizist werde.
Es war der 11. September 1973. Ich weiß nicht mehr, wie ich vom Putsch in Chile und der Ermordung Präsident Allendes erfahren hatte. Ist es nicht seltsam? Ich kann mich heute nicht mehr erinnern, wie es in einer Zeit ohne Internet und Handy überhaupt möglich war, dass sich Informationen wie ein Lauffeuer verbreiteten. Aber ich hatte irgendwie davon erfahren, auch von der Erklärung Henry Kissingers, der bereits wenige Stunden nach Allendes Tod gutgelaunt einräumte, dass die USA immer bereitstünden, befreundeten Völkern zu helfen.
Ich nahm sofort ein Taxi. Es gab keine Absprachen. Ich kann mich nicht erinnern, dass herumtelefoniert worden wäre, um eine spontane Kundgebung zu organisieren. Es war einfach klar: Ich musste sofort zur Botschaft der USA. Ich war damals Anfang zwanzig, ein verträumter, zur Schwermut neigender Philosophiestudent. Ich hatte wenig Geld. Ich glaube, ich war der einzige Wiener Student, der damals mit dem Taxi zu einer Demo fuhr. Aber es hätte mir an diesem Tag mit der Straßenbahn zu lange gedauert.
Das war die Wut.
Vielleicht brauchten wir damals keine Handys, weil wir auch ohne technische Geräte mitbekamen, was in der Luft lag. Die Wut.
Als ich in der Boltzmanngasse ankam, hatten sich bereits einige Hundert Menschen vor der Botschaft versammelt. Es wurden minütlich mehr. Ich sah mich plötzlich da stehen, die geballte Faust rhythmisch hochstoßen und mit den anderen schreien: »Allende, Allende, dein Tod ist nicht das Ende!«
In Wahrheit war es nicht die geballte Faust. Ich hatte ein Buch dabei, ein Exemplar der »Dialektik der Aufklärung« von Horkheimer/Adorno, das ich schon den ganzen Tag mit mir trug. Also stieß ich dieses Buch in die Luft, als wir »Allende, Allende …« zu rufen begannen. Am nächsten Tag war ein Foto im Wiener KURIER, auf dem ich zu sehen war, wie ich das Buch in die Höhe streckte und schrie. Darunter stand: »Studenten demonstrierten mit Mao-Bibel vor der US-Botschaft«.
An der Ecke Boltzmanngasse/Strudlhofgasse befand sich eine Baustelle. Ich glaube, dass wir die Steine von dort holten. Zugleich fuhren immer mehr Polizeiautos vor. Da sah ich Werner, einen Freund aus dem Philosophie-Seminar. Dass ich nicht verhaftet oder verletzt wurde, habe ich ihm zu verdanken. Er hatte Angst. Ich hatte den Eindruck, dass er hyperventilierte. Er keuchte, mehr noch: Er hechelte. Er zog an meiner Jacke, zerrte mich weg. Ich dachte, dass ich mich um ihn kümmern müsse.
Werner litt, wie ich wusste, an einer Herzinsuffizienz. Er war überzeugt davon, dass es der Kapitalismus sei, der ihn krank machte, weshalb er jegliche Behandlung durch die bürgerliche Schulmedizin verweigerte. Einen marxistischen Herzspezialisten, mit dem er eine Therapie hätte diskutieren können, die vom Kapitalismus als Krankheitsursache ausging, gab es in Wien nicht. Keine zwei Wochen nach der Kundgebung vor der amerikanischen Botschaft wäre Werner, übrigens während eines Wilhelm-Reich-Arbeitskreises zur »Funktion des Orgasmus«, beinahe an seiner Krankheit gestorben.
Ich selbst erfreute mich damals bester Gesundheit. Nur ein einziges Mal – ich hatte mir beim Fußballspiel Trotzkisten gegen Spontis das Bein gebrochen – war ich in die Verlegenheit gekommen, ärztliche Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ich erwähne das deshalb, weil
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