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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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neuen Leiden des jungen W.«, »Der fremde Freund« oder »Bericht vom Großvater« zeigten schon im Titel ihre Herkunft aus dem Geist und den Methoden des Stasi-Berichts. Im Grunde sei Literatur immer schon erkennungsdienstliche Arbeit gewesen, aber nie zuvor in der Geschichte sei dieser Sachverhalt so konsequent und gesellschaftlich umfassend umgesetzt worden.
    Ich hoffe, dass ich Konrad-Otto nicht schade, wenn ich dies berichte. Jedenfalls wurde er nach seinem Vortrag von den Vertretern des germanistischen Establishments nicht mehr ernst genommen, während ich dieses nicht mehr ernst nehmen konnte (ein Tübinger Professor etwa referierte zum dritten Mal, nach den germanistischen Symposien in Los Angeles und Paris, über »Deutsche Erzähler von Schnitzler bis Handke«), weshalb Konrad-Otto und ich beschlossen, uns hinterher nicht beim Buffet anzustellen, das vom Goethe-Institut für die Referenten des Symposiums ausgerichtet wurde, sondern in die Stadt zu gehen, um irgendwo ein Pörkölt zu essen und Bier zu trinken.
    Konrad-Otto war damals noch mit mir per Sie –
    bis wir zufällig an der Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in der Izso utca vorbeikamen. Da waren Hunderte Menschen, die in die Botschaft eindrangen, am Zaun hingen, der den Vorgarten der Botschaft von der Straße trennte, die davor aufgestellten Absperrungsgitter zu überwinden versuchten, an das Tor schlugen, an der Fassade hochkletterten, oder einfach auf dem kleinen Rasenstück vor dem Botschaftsgebäude lagen, wie Riesenschnecken zusammengerollt, beobachtet von ungarischen Polizisten, die ihre Schlagstöcke nur hoben, um in Fernsehkameras zu winken.
    »Schau dir das an!«, sagte Konrad-Otto. Seither sind wir per Du.
    Er begriff schneller als ich. Das waren DDR-Bürger, die als Touristen nach Ungarn gereist waren, um über das exterritoriale Gebiet der BRD-Botschaft in den Westen ausreisen zu können. Er sagte, dass die DDR jetzt »ausrinne«, es sei nur eine Frage der Zeit, sagte er, bis die DDR nachgeben müsse. Werde die Mauer geöffnet, liefen die DDR-Bürger raus und das Kapital dringe ein. Das wäre das Ende der DDR. Damals, aus seinem Mund, hörte ich zum ersten Mal den Begriff »Wiedervereinigung«.
    »Wenn es zur Wiedervereinigung kommt, dann wandere ich aus. Ich will nicht in einem neuen Großdeutschland leben – schreckliche Vorstellung!«
    Ich nahm das noch nicht ernst, hielt es für ein Symptom der natürlichen Nervosität eines jungen Mannes mit akademischen Ambitionen: Ohne die DDR hätte er sein Spezialgebiet, die DDR-Literatur, verloren.
    Was mir aber nicht aus dem Kopf ging, war der Begriff »Wiedervereinigung«. Wieso hatte Konrad-Otto sofort ganz selbstverständlich diese Formulierung verwendet, die, wir wissen es, wenig später allgegenwärtig war? »WIEDERvereinigung« – obwohl doch diese beiden Staaten, die BRD und die DDR, nie zuvor vereinigt gewesen waren. Es hatte alle möglichen Deutschlands gegeben, das von Tacitus beschriebene »Germanien«, ein topographisch nicht klar begrenztes Siedlungsgebiet verschiedener Völker, dann rund zweihundert deutsche Kleinstaaten und Fürstentümer, drei Reiche, eine Republik, kurz auch eine Räterepublik, und dann eben diese beiden Staaten, eigentlich drei, wenn man, wie es jeder Kärntner fordert, auch Österreich zu den deutschen Staaten zählt. Aber es hatte in dieser ganzen Geschichte nie eine Vereinigung von BRD und DDR gegeben, weder politisch noch territorial – wieso sprach Konrad-Otto, und bald die ganze Welt, von »Wiedervereinigung«?
    Da fiel es mir plötzlich ein. Wie hatte ich das vergessen können? Deutlich kamen die Erinnerungen. Alles stand mir wieder klar vor Augen. Auch und vor allem mein eigener, zwar kleiner, aber doch exemplarischer Beitrag zur Vereinigung dieser beiden deutschen Staaten.
    Ich habe neben meinem Tagebuch, in das ich nach Möglichkeit täglich etwas hineinschreibe, ein zweites – ich nenne es »Das wahre Tagebuch«: Hier notiere ich die Wahrheit, und weil sie oftmals einige Zeit braucht, bis sie zu Tage tritt oder mir klar wird, kann ich diese Eintragungen naturgemäß immer nur rückdatiert machen. Im August 2009, nach dem Treffen mit Konrad-Otto, bei dem er mich nach meinen Erinnerungen an die Nacht, in der die Mauer fiel, befragt hatte, schrieb ich also in mein »Wahres Tagebuch«:
    »10. November 1989. Als ich im Fernsehen die Bilder der Maueröffnung sah, sprang ich auf und suchte mein Briefmarkenalbum.«
    Ebendies sprach ich

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