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Ich kann jeder sagen

Ich kann jeder sagen

Titel: Ich kann jeder sagen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Menasse
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mir Werners Standpunkt nicht nur verrückt, sondern insgeheim auch plausibel erschienen war. Hätte ich Werners Krankheit gehabt – gut möglich, dass ich damals gestorben und ein unbekanntes Opfer der Auseinandersetzung der Weltsysteme geworden wäre.
    So herrisch sich die westliche Welt in Chile gezeigt hatte, so hilflos war sie damals gegenüber den arabischen Ländern. 1973 gab es nicht nur den heute vergessenen 11. September, es war auch das Jahr der sogenannten »Energiekrise«. Die Scheichs, so stand es in den Zeitungen, »drehten den Ölhahn zu«. Das war es, worüber sich die ganze Republik empörte: Primitive Wüstenhäuptlinge, die zufällig auf den größten Erdölreserven der Welt saßen, zwangen die demokratischen Hochkulturen zu Verzichtleistungen. Der österreichische Kanzler empfahl allen Männern, sich nicht mehr elektrisch, sondern nass zu rasieren, um Energie zu sparen. Es wurde ein »autofreier Tag« eingeführt, um den Benzinverbrauch zu drosseln, und in den Schulen die »Energieferien«, um Heizkosten zu sparen.
    Damals, als in den Zeitungen ständig von der »Energiekrise« die Rede war, hatte ich eine ungeheizte Wohnung und litt kraftlos an einer Sinnkrise. Beides hatte allerdings nichts mit der Energiekrise zu tun. Mein Vater hatte seine monatlichen Zahlungen eingestellt. Er hielt mein Philosophiestudium für blanken Müßiggang – hart an der Grenze zur Kriminalität.
    Er legte den KURIER auf den Tisch.
    Mein Sohn, ein randalierender Maoist!
    Ich bin kein Maoist.
    Bist du das? Auf diesem Foto?
    Ja.
    Er nickte.
    Ich bekam einen Fieberschub von Hass und Verachtung. Dieses Nicken meines Vaters erschien mir als der Inbegriff von Idiotie, Selbstgerechtigkeit und emotionaler Verrottung. Er wusste nicht, was Maoismus war. Er konnte nicht wissen, ob ich tatsächlich dem Maoismus anhing. Er konnte also auch nicht wissen, dass ich diese Fraktion ablehnte und nichts mit ihr zu tun hatte. Aber die Art, wie er nur durch ein Nicken klarmachte, dass er es gar nicht wissen wollte, dass er nicht bereit und nicht im Geringsten interessiert war, darüber zu reden und etwas von mir zu erfahren, die Härte, mit der er in jedem Fall sein Urteil sprach, ohne sich um Aufklärung bemüht zu haben, machte mich sprachlos. Wie er lieber seinen Sohn verurteilte, als einen Satz aus einer Boulevard-Zeitung zu hinterfragen!
    Diese Karikatur einer archaischen Schicksalstragödie, wie er mit steinernem Gesicht seinen Sohn verstieß! Ich wollte ihm so viel sagen, dass ich kein Wort herausbrachte. Den vom CIA organisierten Putsch gegen den demokratisch gewählten Präsidenten eines souveränen Staates nahm er als »Weltpolitik« hin, aber dass sein Sohn an einer Kundgebung gegen diesen Putsch teilgenommen hatte, zur Verteidigung der Demokratie, in einem Land mit Demonstrationsfreiheit, entsetzte diesen braven Staatsbürger, der nun meinte, gebieterisch einschreiten zu müssen.
    Ich sagte kein Wort. Er sagte noch einige Sätze, im Grunde aber nur dies: Kein Geld mehr, bis ich »vernünftig« geworden sei.
    Ich stand auf und ging. Ich wünschte ihm den Tod. Heute bin ich sehr froh, dass ich auch diesen Satz nicht ausgesprochen habe.
    Er hatte damals schon Krebs, aber das wusste ich noch nicht.
    Ich saß also in einer ungeheizten Wohnung und hatte die Sinnkrise. Ich fragte mich, ob mir mein Studium so viel bedeutete, dass ich auch bereit war, es durch Jobs selbst zu finanzieren. Philosophie! Und was dann? Ich war von den Bedenken meines Vaters nun selbst schon angekränkelt.
    Ich ging in Vorlesungen und fragte mich danach bei Durchsicht meiner Mitschriften, ob ich beim Mitschreiben oder der Professor beim Vortragen deliriert hatte. Ich machte noch zwei oder drei Prüfungen, die lediglich Triumphorgien der Professoren waren, die, nur wenige Jahre zuvor mit Tomaten beworfen, sich nun bei der nächsten Studentengeneration ungestraft dafür rächen konnten: »Brav gelernt, Herr Kollege, aber ich kann Ihnen nur ein ›genügend‹ geben, weil: Sehr gut ist der liebe Gott, gut bin ich, und dann kommt lange nichts.«
    Im März 1974 starb Werner. Nein, es war nicht das Herz. Er hatte einen Autounfall. Ich ging zum Begräbnis und traf dort ein kleines Fähnlein von Ehemaligen: ehemalige Studentenführer, Kommunegründer, Revolutionsdichter, Parteiengründer – fast jeder, mit einer halbvollendeten philosophischen Doktorarbeit im fünfzehnten bis zwanzigsten Semester, ein Veteran des Übergangs von der Theorie zur Praxis. In der

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