Ich klage an
der einseitigen, geistlähmenden religiösen Rhetorik entwickelt werden, die Millionen von Muslime täglich zu hören bekommen. Laßt die Voltaires unserer Zeit in einer sicheren Umgebung an einer Epoche der Aufklärung für den Islam arbeiten. Diese Chance wird uns in unseren Heimatländern oft nicht gewährt. Der Islam hat keinen Prozeß der Aufklärung durchlaufen, noch ringen islamische Gesellschaften mit denselben Problemen wie das Christentum vor der Zeit der Aufklärung. Ein Kennenlernen der Vernunft würde den Geist jedes einzelnen Muslims vom Joch des Jenseits befreien, von den ständigen Schuldgefühlen und der Versuchung des Fundamentalismus. Zudem würden wir lernen, selbst die Verantwortung für unsere Rückständigkeit und unsere Probleme zu übernehmen. Deshalb laßt uns nicht im Stich. Gönnt uns einen Voltaire.
Warum gelingt es uns nicht, uns selbst zu hinterfragen?
Bis zum Überdruß wurde darauf hingewiesen, daß es »den« Islam nicht gibt. Es gibt ebenso viele Arten des Islam, wie es Muslime gibt. Der eine Muslim sieht den Islam als seine Identität, der andere als seine Kultur, der dritte als eine rein religiöse Angelegenheit, und für wieder einen anderen ist der Islam alles zugleich: Identität, Kultur, Religion, politische und soziale Richtschnur. Aber was all diese Muslime gemeinsam haben, ist die Überzeugung, daß man die Grundprinzipien des Islam nicht kritisieren, korrigieren oder ihnen in irgendeiner Hinsicht widersprechen darf. Vor genau diesem Hintergrund möchte ich die Frage stellen, ob wir vor dem Islam Angst haben müssen. Es geht mir also um die Grundprinzipien. Die Quellen des Islam sind der Koran und die Lebensweise des Propheten (die Sunna), und jeder Muslim hat die Pflicht, in seiner Moral und im Alltag diese Lebensweise so gut wie möglich nachzuleben.
Nach den abscheulichen Anschlägen vom 11. September wurde bekannt, daß der vermutliche Haupttäter Mohammed Atta hieß. Dieser junge Mann hinterließ einen Brief, in dem er erklärte, seinen Terroranschlag für Allah und wegen der Belohnung begangen zu haben, die ihn im Paradies erwarte. Der Brief enthielt auch einen Gebetstext, in dem er
Allah um die Kraft bat, ihm bei seiner geplanten Tat beizustehen.
Einige Zeit darauf warder Vater Mohammed Attas im Fernsehen zu sehen. Er wurde mit der Tat seines Sohnes konfrontiert. Attas Vater war zornig und zugleich betrübt. Er machte einen verwirrten Eindruck und konnte und wollte nicht glauben, daß sein Sohn an diesem Massenmord vom 11. September schuld sein sollte. Sein Sohn, sagte er, sei ein fürsorglicher, friedliebender Junge. Darüber hinaus habe er keinerlei Grund gehabt, sich an einer solchen Greueltat zu beteiligen. Für ägyptische Begriffe hatte er doch eine sehr gute Ausbildung. Sein deutscher Professor bestätigte, daß Mohammed Atta tatsächlich ein vielversprechender Architekt gewesen sei. Kurzum, Mohammed Atta besaß alle Eigenschaften eines erfolgreichen jungen Mannes mit einer verheißungsvollen Zukunft, worauf sein Vater außerordentlich stolz war. Nein, nein, rief Vater Atta, mein Sohn hat damit nichts zu tun: Die Juden, der CIA, alles und jeder ist schuld, nur nicht mein Sohn. Böswillige Menschen wollen meinen Sohn und mir einen schlechten Ruf anhängen und unsere Ehre besudeln.
In denselben Tagen nach dem 11. September wurden Muslimen - Schriftstellern, Theologen, Imamen, einfachen Muslimen und Muslimas - auf der Straße die gleichen Fragen gestellt: Wie haben neunzehn überzeugte Muslime im Namen ihres Glaubens eine derart abscheuliche Tat begehen können? Warum ruft Bin Laden alle Muslime auf, sich im Namen ihrer Religion an einem Krieg gegen die Ungläubigen zu beteiligen? Warum wollen indonesische, pakistanische, ja sogar englische Muslime für den Islam ihr Leben opfern und so dem Aufruf Bin Ladens folgen?
Die Reaktionen dieser Muslime waren mit denen von Attas Vater vergleichbar: erschrocken - und empört, daß der Islam mit Terrorismus in Verbindung gebracht wurde. Nein, rief einer wie der andere mit Nachdruck: Die Täter waren keine Muslime, einige der jungen Männer haben getrunken und sind zu Prostituierten gegangen; das sind unislamische Gewohnheiten, die sie vom verdorbenen Westen übernommen haben; sie haben die Koranverse völlig aus ihrem Zusammenhang gerissen. Nein, Bin Laden ist kein Muslim; nein, all diese kreischenden jungen Männer haben den Islam falsch verstanden: Der Islam ist eine friedliebende, tolerante und karitative
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