Ich klage an
Gewalt führt, handelt er entsprechend den in seiner Gruppe (Kultur) geltenden Normen. Auf diese Weise versucht er seine Autorität zu festigen und seine Ehre zu wahren; die Führung von Mitarbeitern durch »kollektive Überlegungen« wäre ein Zeichen von Schwäche. Eine Anweisung, die mit »Würdest du bitte...« anfängt, würde in seiner Kultur ein Niedrigstehender einem Ranghöheren gegenüber verwenden und nicht umgekehrt. Im Bezugssystem der niederländischen Mitarbeiter dagegen ist das Verhalten des marokkanischen Lagerverwalters unmöglich und inakzeptabel. Paßt sich der Marokkaner nicht an, indem er die Werte seiner niederländischen Mitarbeiter übernimmt, wird er der Verlierer sein. Dann kann er sich nicht halten und wird arbeitslos.
Solche Situationen kommen täglich vor. Sie provozieren wechselseitig viel Unverständnis und Mißtrauen. Da sich einige Muslime über »Diskriminierung« beklagen, stellen Arbeitgeber lieber »keine Marokkaner« ein. Für einen in den Niederlanden lebenden Muslim ist deshalb das Prinzip, durch gemeinsames Beraten und eventuelles Verhandeln zu einer Lösung zu kommen - mit Gewinn und Verlust für beide Parteien -, geeigneter als der Maximalismus der autoritären Haltung. Das Rechtbehalten oder das Verfolgen eigener Interessen ist in den Niederlanden in einen sozialen Kodex eingebettet und berücksichtigt individuelle Rechte und Interessen von Kollegen. Faktisch bedeutet das, daß der Zuwanderer seine Identität als Individuum entwickeln und seine traditionelle Ehr- und Schamkultur aufgeben muß. Will er sich in einer modernen, westlichen Gesellschaft behaupten können, muß er, statt sich nach dem »Blick des anderen« ( nach Ehre und Schande) zu richten, einen stabilen »inneren Kompaß« entwickeln.
Ein anderes gutes Beispiel ist das Verhältnis von Mann und Frau. Was in diesem Bereich der stark patriarchalischen Werteorientierung von den meisten Muslimen als Norm angesehen wird, ist in der modernen Gesellschaft schlichtweg unangebracht; es gilt als überholt und menschenunwürdig. Der Jungfrau/Hure-Kult, der Wunsch nach möglichst vielen Söhnen, das Beschneiden von Mädchen (meist unter Berufung auf die Religion verteidigt), die Zwangsverheiratung von Töchtern -all das sind Attribute der Ehrmentalität. Muslime werden diese Praktiken und die damit verbundenen Werte als Gruppe - also Frauen wie Männer - aufgeben müssen. Geschieht das zu langsam oder in unzureichendem Maße, wird nicht viel aus der Emanzipation der Muslime werden. Oder, wie es Arie van der Zwan formuliert, »... die Kluft zwischen dem geschlossenen Milieu der Immigranten nichtwestlicher Abstammung und der westlichen Gesellschaft, in die sie gekommen sind, kann nicht unabhängig von der Stagnation der Gesellschaft gesehen werden, aus der sie stammen. Sie kommen ja noch überwiegend aus der islamischen Welt, und es gibt eine wachsende Menge internationaler Literatur, in welcher die Frage nach dem Scheitern der islamischen Welt gestellt wird: >Was ist falsch gelaufen?< Seit dem achtzehnten Jahrhundert wurden in der islamischen Welt wissenschaftlich, kulturell und wirtschaftlich wenig Fortschritte erzielt, obwohl doch in früheren Zeiten bahnbrechende Leistungen erbracht wurden.« 19
Van der Zwan nennt hier sehr treffend die internationale Seite (Stagnation als Pushfaktor von Migration) wie die nationale Seite (kulturelle Probleme bei der Integration als Aufgabe für die aufnehmende Gesellschaft). In seinem Artikel beleuchtet er die gemeinsamen Ursachen des Migrationsphänomens wie das Festhalten der Muslime an Werten und Normen, die in einer modernen Gesellschaft »nicht adäquat« sind.
Anfangs interpretierten niederländische Politiker und Entscheidungsträger die Arbeitsmigration aus der muslimischen Welt (Marokko und Türkei) als ein vorübergehendes Phänomen. Die Neuankömmlinge waren »Gastarbeiter«. Die Muslime hatten eine vergleichbare Haltung. Auch sie gingen davon aus, vorübergehend im Ausland Geld zu verdienen, um sich dann anschließend in ihrem Heimatland eine dauernde Existenz aufzubauen. Als klarwurde, daß Muslime, genau wie andere Zuwanderer nichtwestlicher Herkunft, in den Niederlanden bleiben würden, entwickelte sich langsam eine Debatte darüber, wie man sie am besten in die niederländische Gesellschaft integrieren könnte. In dieser Debatte sind vier Positionen zu unterscheiden.
Um Teil der niederländischen Gesellschaft zu werden, so lautet dieser Ansatz, müssen legal
Weitere Kostenlose Bücher