Ich krieg dich!: Menschen für sich gewinnen - Ein Ex-Agent verrät die besten Strategien (German Edition)
beobachtete scheinbar wie gebannt die Flugzeuge auf der Startbahn. Mein Plan sah vor, dass Tichow seinen Platz zuerst einnahm. Als einer der Letzten bestieg ich die Fokker 70. Ich hatte deutlich vor Augen, wo ich Tichow finden würde; ich kannte die Maschine. Fünfundachtzig Sitzplätze, siebzehn Reihen: eins bis zehn Europe Select, elf bis siebzehn Coach. Fünf Sitze pro Reihe, A und C links vom Gang, D, E, F rechts davon. Trotzdem ließ ich meine Blicke artig über die Sitzplatznummern unter den Gepäckfächern gleiten. Das wirkt am natürlichsten. Sollte Tichow den Eindruck bekommen, dass ich ihn anvisierte, würden bei ihm sofort die Alarmglocken schrillen, und er würde jeden Kontaktversuch abblocken. Also verhielt ich mich wie die meisten Passagiere auf ihrem Weg zu ihrem Sitzplatz — suchend –, während ich mich an ihn heranarbeitete. Von außen betrachtet machte ich einen völlig normalen, harmlosen Eindruck; lediglich ein Mann, der seinen Sitzplatz finden wollte. Innerlich war ich hochkonzentriert, meine Sinne maximal geschärft. Bis jetzt hatte Tichow mich noch nicht wahrgenommen, doch der entscheidende Augenblick nahte. Als ich bei Reihe vierzehn ankam, schaute ich Tichow freundlich an. Für einen Moment trafen sich unsere Blicke. Zum allerersten Mal. Ich speicherte diesen Moment wie einen Schnappschuss ab. Tichows Gesichtsausdruck entnahm ich, dass er in mir sah, was er sehen sollte: Einen zufälligen Sitznachbarn auf einem Flug.
Wieder ein Etappenziel erreicht.
»Der erste Kontakt mit einer bis dahin unbekannten Person prägt oft das gesamte weitere Verhältnis der beiden Gesprächspartner. Noch bevor das erste Wort gefallen ist, wird
das Gegenüber gemustert und abgecheckt. Bei dieser Vorbeurteilung spielen Vorurteile eine große Rolle. Mit diesem Hintergrundwissen sollte der nachrichtendienstliche Mitarbeiter sein Aussehen und Auftreten dem Anlass anpassen. Ein solchermaßen angepasstes Auftreten allein reicht zwar noch nicht aus, doch es erleichtert den Einstieg und verhindert mögliche Blockaden aufgrund von Vorurteilen beim Gesprächspartner.«
Quelle: Nachrichtendienstpsychologie, Band 1
Ich verstaute mein Handgepäck im Fach über meinem Sitz und setzte mich neben Tichow. Dabei grüßte ich ihn mit einem »Hallo!«. Er schaute von seiner Zeitung auf, nickte mir einen Gruß zu, und das war’s dann auch schon. Für den Rest des achtzigminütigen Flugs beschränkte sich unsere Kommunikation auf die obligatorischen Worte: »Bitte«, »Danke«, »Kein Problem« und »Gerne«. Alles lief nach Plan. Der erste Kontakt war initiiert und solide inszeniert. Jetzt ging es mir darum, ein Gefühl für Tichow zu entwickeln, ihn möglichst lange zu beobachten, mich auf ihn einzustellen und mich in ihn einzufühlen, sein Verhalten zu scannen. Auszuloten, wann welche Tools in der Anwerbephase sinnvoll sein könnten. Ich suchte nach weiteren Ansatzpunkten, um die geplante Taktik zu optimieren. Es wäre zu früh gewesen, bei dieser ersten Begegnung Smalltalk zu forcieren. Hätte sich von selbst etwas ergeben, wäre ich gerüstet gewesen. So konzentrierte ich mich darauf, das Bild von mir gemäß meiner vorbereiteten Legende zu installieren. Ich öffnete meinen Laptop und arbeitete an den Plänen zum Bau einer Luxusjacht, die unsere Firma für einen reichen Russen realisierte, der sehr viel Wert auf Diskretion legte. Diese Legende beherrschte ich blind. Die Abteilung für operative Sicherheit hatte sie mir auf den Leib geschneidert. Sie hatte mir über die Jahre hinweg gute Dienste geleistet und war mit der Zeit immer lebendiger geworden.
Alle Details hielten selbst einer gründlichen Überprüfung stand. Die Firma war real, es existierten Konten, Fahrzeuge, Adressen, Telefonnummern und Ansprechpartner vor Ort, in den Melde- und Gewerberegistern und im Internet. Nicht nur wir und der Rest der Bevölkerung, sondern auch die Mafia googelt erstmal, wenn sie mehr über jemanden wissen möchte.
Tichow las ein Boulevardblatt, Sport und Klatsch. Politik und Zeitgeschehen, ohnehin dünn gesät, überblätterte er. Gut zu wissen. Mit der etwas jüngeren Stewardess flirtete er hin und wieder, die anderen beiden würdigte er keines Blickes. Er war frisch rasiert, und jetzt konnte ich sein Aftershave deutlich riechen. Immer noch angenehm. In der linken Innentasche seines Sakkos steckte ein Handy, in der rechten Außentasche ein zweites. Ebenfalls gut zu wissen. Manchmal ließ er seinen Blick von der Zeitung auf meinen
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