"Ich laufe, um zu laufen ...": Eine Frauen-Laufen-Anthologie (German Edition)
abzuheben, trage ich dabei ausrangierte Shirts oder löchrige Pullover. Das Joggen hat die einzige Aufgabe: mir die Kilos vom Leib zu halten. Fast widerwillig stelle ich fest: es macht ja auch Spaß. Allmählich kommt ein Erholungseffekt dazu. Ich jogge ausschließlich nach Feierabend oder am Wochenende, kann mich dabei beruhigen und alles Mögliche durchdenken, vor-, nach- und überdenken. Besonders ergiebig ist das Ausdenken: Die Grundideen für meine Arbeit als Werbetexterin kommen viel leichter beim Laufen als am Schreibtisch, für private Textideen und alle möglichen Probleme gilt das ebenfalls, so dass ich gezielt Denkaufgaben mit zum Flüsschen nehme. Hauptmotiv fürs Sporteln bleibt aber der Erhalt der neu erworbenen Figur. Denn die Schlankheit bringt nicht nur Selbstbewusstsein und gute Laune, sie führt auch zu neuen Aktivitäten wie Radfahren, Segeln und Ausgehen, revolutioniert private und berufliche Beziehungen und macht mich disziplinierter auch in Bereichen, die mit Essen nix zu tun haben. Auf gar keinen Fall will ich mich wiederhaben! –
Irgendwann fühlt sich das Essen auch nicht mehr wie Hungern an. Ich gewöhne mir einen schlanken Appetit an. Und nicht nur die Figur bleibt erhalten, sondern auch das Omatempo: meist überholen die Omas. Auf die Idee, mal etwas schneller zu laufen, komme ich gar nicht erst. So läuft es sechs Jahre lang, bis ein Umzug nach Berlin Veränderungen mit sich bringt, zunächst einmal eine neue Joggingstrecke: die Ufer und Brücken der Spree.
Mit 34 Jahren habe ich zum ersten Mal in meinem Leben einen Laufpartner. Er ist Marathonläufer, Ultraläufer sogar – allerdings ein besonderer. Als einziger Läufer beim Berlin-Marathon darf er offiziell eine Dreiviertelstunde vor der Spitze starten. Beim 12-Stunden-Lauf in Brühl startet er in der Handicap-Klasse. Er leidet an einer inkompletten Querschnittslähmung, die ihn von Jahr zu Jahr langsamer laufen lässt. Die Lähmung bremst ihn also – doch das Laufen bremst auch die Lähmung: Er läuft dem Rollstuhl davon. Wenn er nicht läuft, versprüht er Laufbegeisterung, coacht Läufer und Läuferinnen aller Leistungsklassen, erstellt individuelle Trainingspläne und berät erfolgreich bei orthopädischen Problemen, Schuhkäufen und Wettkampfvorbereitungen. Sein umfangreiches Wissen rund ums Laufen wird auch mir zuteil. Da er die guten Wirkungen des Laufens nicht nur referiert, sondern auch vorlebt und ausstrahlt, ist er unglaublich überzeugend. Nach kurzer Zeit beschließe ich, mein Laufpensum zu erhöhen und häufiger zu laufen, davon erhoffe ich mir eine Linderung meiner vielen Kopfschmerzen.
Mit 35 Jahren laufe ich zum ersten Mal schnell. Freiwillig! Eigentlich habe ich keine Lust dazu, aber die Empfehlung meines Marathonfreundes lautet, mein höchst abwechslungsreiches Wochenprogramm(fünf bis sechsmal Lahmarschtempo für 60 bis 70 Minuten) doch mal etwas aufzupeppen. Also laufe ich zur Lieblingsbrücke, so schnell ich kann. Bald darauf melde ich mich für den Berliner Avon-Frauenlauf an, für zehn Kilometer, was bedeutet, dass die Lieblingsbrücke nun häufiger abgestoppt wird. Mein Ziel lautet: bloß nicht Letzte werden. Auch nicht Vorletzte. Schließlich werde ich Neunhundertdreiundsiebzigstletzte! Von vorne gezählt Tausendsiebenhundertsiebzigste. Das bedeutet physisch: ich laufe mittenmang im Pulk – ein überwältigendes Erlebnis. Außerdem erhalte ich mein erstes Funktionsshirt. Nach dem Avon-Lauf bleiben die schnellen Brücken im Programm, die Lahmarschläufe aber auch: Nun kann ich schon zwei Tempi. Die Langsamkeit ist fürs Meditieren, Nachdenken und Entspannen, die Schnelligkeit fürs Anstrengen und Austoben und die damit verbundenen Glücksgefühle. Beide Laufarten haben eine gemütsaufhellende Wirkung, die sogar bei Nachtläufen spürbar ist: Schlechte Gedanken und Gefühle werden einfach abgeschaltet – das klappt fast immer.
Das Laufen entwickelt sich zu einer Art Psychohygiene. Außerdem wirkt es sich endlich positiv auf die Migräne aus. Und mein ramponierter Schlaf – seinetwegen war ich schon zu Gast im neurologischen Schlaflabor – bessert sich.
Mit 36 Jahren erhalte ich meinen ersten Marathon-Trainingsplan. Bei der Umsetzung desselben erweist sich, dass ich auch wirklich kein Talent bin: Meine Grundgeschwindigkeit ist zu langsam. Ich kann kein Mitteltempo, rangiere zwischen langsam und schnell hin und her. Hügel- oder Treppenläufe, Intervalltraining und Sportplatzrunden lehne ich
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