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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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gefunden, bevor ich zur Kreuzung Crill Road und Route 274 komme. Die Schaltkreise in meinem Gehirn senden Signale durch die Nervenbahnen meines Körpers, und meine Füße tun, wie ihnen geheißen wird. Anders als Ivys Gehirn, das nicht mehr arbeitet. Als der Arzt mir die Röntgenaufnahme von ihrem Gehirn gezeigt hat, fand ich, es sah gar nicht so schlecht aus. Verschwommen, grau, ein paar undeutliche Linien hier und da. Sieht so nicht jedes normale Gehirn aus? Der Arzt stand da und betrachtete Ivys Gehirn, und ich stand daneben und tat dasselbe.
    »So sieht eine intraparenchymale Hämorrhagie aus, Miss Latham.«
    Der Arzt nickte langsam, und ich nickte ebenfalls.
    Dann zeigte er mir das Röntgenbild eines normalen Gehirns. Auch das war grau und verschwommen, aber die Linien . . . die Linien waren richtige Linien, scharf und klar umrissen. Man sah beide Gehirnhälften, und die Ventrikel waren deutlich zu erkennen. Absolut symmetrisch war dieses normale Hirn, und es war schön in seiner Symmetrie.
    Der Arzt stand da und schaute auf das Bild, dieses Mal nickte er nicht. Ich auch nicht. Ich habe die Linien im Gehirn dieses fremden Menschen angesehen, die so klar und scharf umrissen waren, so ganz anders als die im Gehirn meiner Schwester.
    »Sehen Sie das, Miss Latham? Das sind massive Verletzungen im Gehirn Ihrer Schwester.«
    Sie haben ihr ein kleines Loch in den Schädel gebohrt, um einen Blutklumpen herauszuholen und die Cerebrospinalflüssigkeit abfließen zu lassen. Sie haben sie ruhiggestellt. Sie haben die Elektrolyten in ihrem Blut geprüft.
    »Und das ist im Prinzip auch schon alles, Miss Latham. Klingt dürftig, aber mehr können wir nicht für sie tun.«
    Dann haben sie alle Tests gemacht, und Ivys Ergebnisse waren nein, nein, nein, nein und noch mal nein – und dann versuchte sie zu atmen.
    »Das heißt doch, dass sie nicht hirntot ist«, sagte meine Mutter zu dem Arzt. »Sie hat versucht zu atmen, also ist sie nicht hirntot.«
    Der Arzt schloss die Augen.
    »Sie ist nicht hirntot«, hat meine Mutter wieder gesagt. »Hab ich recht?«
    »Nicht amtlich«, sagte er. »Nicht nach dem Gesetz.«
    Jetzt fließt das Blut durch ihren Körper, weil sie sie mithilfe des Beatmungsgeräts atmen lassen. Sie ernähren sie durch eine Magensonde. Meine Schwester, die immer fließendes Wasser war, ist jetzt stehendes Wasser.
    Auf der Route 365, die in nördlicher Richtung aus Sterns hinausführt, kommt man zum Hinckley-Stausee. Vor dem Stausee war dort eine Stadt, Hinckley. Da lebten Menschen, in Häusern, in Wohnwagen. Es gab eine Schule und ein Postamt und bestimmt auch einen Laden oder zwei. Aber genau erinnern kann sich keiner mehr.
    Hinckley wurde geflutet, als die Staumauer gebaut wurde. Manchmal muss ich daran denken. Und an all das, was in den Häusern dort geschehen war, die vielen Tausend Momente, die das Leben der Menschen ausmachen, die dort lebten. Dann kam das Wasser. Das Wasser kam und spülte sie alle hinweg, die Fingerabdrücke und die Fußspuren, die all die Stellen markierten, an denen Menschen je gewesen waren, die sie je berührt hatten, an denen sie je gelacht und geliebt hatten.
    Hinckley ist unser eigenes Pompeji , sage ich im Gehen stumm zu Ivy.
    Hinckley ist absolut nicht wie Pompeji , antwortet sie mir. Jedenfallsstelle ich mir das vor. Diese Leute von Hinckley hatten jede Menge Zeit, bevor sie ihre Häuser verlassen mussten. Wenn Leute ertrunken sind, als Hinckley geflutet wurde, wenn überhaupt jemand, dann habe ich kein Mitleid mit ihnen. Fertig aus.
    So was könnte Ivy sagen, stelle ich mir vor. Wenn sie sprechen könnte. Wenn sie denken könnte. Wenn sie hören könnte.
    Hinckley ist dein Pompeji, Rosie. Deins, nicht meins.
    Die Oberfläche des Hinckley-Stausees liegt völlig friedlich da. Nie käme man auf den Gedanken, dass das der Friedhof einer ganzen Stadt ist, in dem man da schwimmt. All die Häuser, all die Gehwege, sogar die Schule – in tiefsten Tiefen. Adieu, Schule. Adieu, Fußspuren, adieu, Fingerabdrücke.
    Geh.
    Geh weiter.
    Um Himmels willen, Rose, du kommst noch zu spät zu Naturkunde. Oder zu Geschichte. Willst du das etwa? Nein. Natürlich nicht, Gott bewahre. Zu spät für Geschichte und das Buch der Kriege mit seinen wunderbaren Weisheiten . War das jetzt ironisch, Rose? Nein, Rose, kein bisschen ironisch. Jeder muss so viel über Kriege wissen wie möglich.
    Manchmal führe ich solche Unterhaltungen zwischen mir und mir.
    Aber dann bleibe ich stehen, auf halbem Weg zur

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