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Ich lebe lebe lebe - Roman

Ich lebe lebe lebe - Roman

Titel: Ich lebe lebe lebe - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alison McGhee
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Schule, an der Kreuzung Crill Road und Thompson Road: Hilfe! Jetzt bin ich schon meilenweit gelaufen, und das Wasser in mir ist immer noch nicht zur Ruhe gekommen. Wird es dieses Mal über die Ufer treten? Wo ist Todd? Wo ist Warren? Wo ist Jimmy Wilson mit seinem starren Blick, den Augen, die sich nicht bewegen und mich nicht mehr ansehen wollen?
    Ivy und ich hatten einen Unfall. Es dämmerte schon in den Adirondacks, und ein hellblauer Truck kam um die Kurve –
    »Kleine.« William T. Sein Truck steht neben mir, im Leerlauf, William T. schlägt mit der Hand von außen auf die Tür. Wie lange ist er schon da?
    »Kleine! Komm wieder zu dir!«
    Er macht ein merkwürdiges Gesicht.
    »Spring rein.«
    Meine Füße rühren sich nicht von der Stelle. Ich klebe fest.
    » Sofort .«
    Ich steige ein. Er bringt mich zur Schule, biegt in die Wendeschleife ein und wartet mit laufendem Motor.
    »Hör mir zu«, sagt er. »Du steigst jetzt aus. Richtest deine Füße in Richtung Eingang aus und marschierst los. Gehst rein. Zu dem Raum, in dem du deine erste Stunde hast. Später zum nächsten. Noch später zum übernächsten.«
    Immer noch dieser Ausdruck in seinem Gesicht.
    »Eine Viertelstunde, dann noch eine«, sagt er. »Immer nur die nächste Viertelstunde, an mehr musst du nicht denken.«
    Aber ich bin müde. So müde. William T. beugt sich vor und greift an mir vorbei nach dem Türgriff und verpasst der Tür einen kleinen Stoß mit dem Handballen.
    »Vorwärts jetzt«, sagt er. »Um drei bin ich wieder hier. Das macht ab jetzt siebenundzwanzig mal eine Viertelstunde.«
    Ich sehe William T. nach, wie er mit seinem Truck bergab fährt. Eine Viertelstunde. Gleich darauf stehe ich vor der Klasse und halte meinen Ausweis hin, damit der Lehrer einen Eintrag machen kann, weil ich zu spät gekommen bin.
    Alle starren mich an.
    Ich reiße mich zusammen. Reiße mich fest zusammen. Ich spüre die Blicke, spüre, wie Augen mich ansehen und gleichzeitig versuchen wegzusehen, diese Augen, die sehen, dass ich sie nicht sehe, deswegen ist es sicher, mich anzusehen, mich gründlich inAugenschein zu nehmen – was ich anhabe, ob meine Haare gekämmt sind, wie ich am Pult stehe und warte, warte, warte, warte, warte, dass Mr. Trehorn endlich meinen Ausweis nimmt, damit ich nach hinten auf meinen Platz gehen kann.
    Wo Tom Miller wartet.
    Blicken Sie auf, Mr. Trehorn. Blicken Sie schon auf. Nehmen Sie meinen Ausweis, Mr. Trehorn. Nehmen Sie ihn schon.
    Aber Mr. Trehorn ist ein viel beschäftigter Mann. Er hat extrem viel zu tun, macht lauter kleine schwarze Striche in sein Notenbuch. Strich. Strich. Strich. Fleißig. Fleißig. Fleißig.
    Tom Miller steht auf. Er geht nach vorn, wo Mr. Trehorn am Pult sitzt, den Kopf tief über seine kleinen schwarzen Noten gebeugt. Tom nimmt mir den Ausweis aus der Hand. Legt ihn aufs Pult.
    »Klopf, klopf«, sagt er zu Mr. Trehorns gesenktem Kopf.
    Dann wartet er, dass ich vorgehe. Ich gehe vor. Durch den Mittelgang. All diese Blicke. Blicke. Blicke. Ich spüre sie. Rose Latham, deren Schwester den Unfall hatte. Eine Viertelstunde. Tom Miller ist direkt hinter mir. Eine Viertelstunde.
    Nur noch zwei Kriege übrig. Vietnam und der Erste Golfkrieg. Tracy Benova hat versucht, mich kurz auf den neuesten Stand zu bringen.
    »Die meiste Zeit ging's um den Zweiten Weltkrieg«, sagte sie. »Korea war mehr so ein Blitzlicht. Korea war anscheinend der Krieg, mit dem sie aufgehört haben, so stolz auf ihre Kriege zu sein.«
    Ich sitze neben Tom Miller ganz hinten in Mr. Trehorns Fachraum. Früher habe ich nicht zu den Schülern in der letzten Bank gehört. Dabei ist es gar nicht so übel da hinten, mit der Aussicht auf die Hinterköpfe der anderen, auf Mr. Trehorn, wieer sich zur Tafel dreht, etwas hinschreibt, sich wieder umdreht, um uns zu erklären, was er da geschrieben hat. Schreibblöcke werden aufgeschlagen. Stifte kratzen auf Papier. Beine strecken sich in den Gang. Offen stehende Fenster, zwitschernde Vögel, der Hausmeister weit hinten auf dem Schulgrundstück, bei den Bäumen, die das Fußballfeld markieren.
    Von Zeit zu Zeit dreht jemand schnell den Kopf nach hinten, um mich verstohlen anzusehen. Rose Latham, die mit der hirntoten Schwester. Rose Latham, die immer in der ersten Reihe saß. Rose Latham, das Flittchen. Tom Miller neben mir kritzelt in seinen Block.
    Warren Graves dreht sich um und sieht mich an. Ich erwidere seinen Blick. Glaubst du, du könntest mir wehtun, Warren? Du hast doch keine Ahnung.

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