Ich lebe lebe lebe - Roman

diese ganz normalen Leute, die ihr ganz normales Leben leben. Das Baby in seinem Binsenkörbchen in der Ecke ist vielleicht gerade eingeschlafen.«
    »Gütiger Gott«, sagt William T., »sind wir etwa wieder bei Moses angelangt?«
    Ich tue weiter so, als würde ich vorlesen. »Das Baby schläft inseinem Binsenkörbchen, und seine Mutter steht am Lehmofen und backt das Brot fürs Mittagessen. Sein Vater steht auf dem Markt und verkauft selbst gekelterten Wein.«
    Angel schaut kurz herein, um sich zu überzeugen, dass alles in Ordnung ist – Rose auf dem grünen Stuhl mit dem Buch, William T. auf dem blauen Stuhl mit seiner Einsiedlerdrossel –, und winkt uns von der Tür her zu, bevor sie sie wieder zuzieht.
    »Und dann mag da auf einmal dieses Geräusch gewesen sein«, lese ich angeblich weiter. »Es mag durchaus ein Geräusch gegeben haben. Vielleicht das Geräusch von Asche, das die Luft erfüllte? Vielleicht ein Geräusch wie das Schlagen von Flügeln?«
    Meine allerliebsten Geräusche: Hagel, der auf die Veranda oder auf Motorhauben prasselt, die Wattestille der Welt, wenn ich in Schneenächten aufwache, Regen, der im Frühling oder Sommer aufs Dach trommelt und mich einlullt, sodass ich einschlafe, das Zirpen der Grillen, das Quaken der Ochsenfrösche unten im Teich in lauen Sommernächten.
    Und die Stimme meiner Schwester: Es ist wieder so weit, stimmt's, Rosie? Komm schon, gehen wir ein Stück.
    Vulkanasche. Hätte die ein Geräusch gemacht?
    »Du siehst auf von dem Brot, nach dem du gerade geschaut hast, dem fast fertigen Brot«, lese ich angeblich vor. »Du weißt sofort, irgendetwas stimmt nicht. Dein erster Impuls ist, nach dem Baby in der Ecke zu sehen, ob alles in Ordnung ist mit ihm. Dem Baby geht es gut. Das Baby schläft. Trotzdem, irgendetwas stimmt nicht, du spürst es.«
    »Dieses Pompejibuch ist irgendwie seltsam«, sagt William T. »Es ist überhaupt nicht geschrieben wie ein normales Geschichtsbuch.«
    Wurde das Baby von der Mutter aus seinem Binsenkörbchen herausgerissen, als die erste Asche herunterflatterte? Hat dieMutter den Kopf geneigt und einem fernen Geräusch gelauscht, das sie nicht verstand? Ist das Baby aufgewacht? Hat es angefangen zu schreien? Hat die Mutter es zu beruhigen versucht, während sie eilig das Haus verließ?
    Doch vielleicht blieb dafür auch keine Zeit. Vielleicht geschah alles so schnell, dass da nur ein einziger Moment der Verwirrung war – ein Blick zum Ofen, in dem das Brot fast fertig gebacken war, ein Blick zum Bett, das noch ungemacht war, schon stürzte sie in die Ecke des Raumes, in der das Kind in seinem Binsenkörbchen schlief – und dann war auch schon alles vorüber.
    Ivy hat jetzt die Haare, die sie sich immer gewünscht hat. Lang und weich, weicher, als sie es sich je hätte vorstellen können.
    »Feiner als Babyhaar«, hat Angel gesagt. »Wundervolles Haar. Schau doch nur.«
    Sie hielt eine Strähne hoch. Durch das Fenster hinter ihr strömte Licht herein und ließ das Haar meiner Schwester leuchten. Wer hätte geahnt, dass jede einzelne Haarsträhne so viele verschiedene Farben in sich vereinigen konnte, so funkeln konnte im Licht der Sonnenstrahlen, als wäre sie aus der Sonne selbst gemacht?
    »›Bevor Sie zu Kapitel sechs übergehen‹«, sage ich, »›prüfen Sie, ob Sie folgende Fragen beantworten können: Wie sieht das Handsignal für ›Stopp!‹ aus? Und das für Rechtsabbiegen? Wenn zwei Fahrer gleichzeitig aus unterschiedlichen Richtungen an eine Kreuzung heranfahren und der eine geradeaus weiterfahren, der andere links abbiegen will, wer muss dann dem anderen die Vorfahrt gewähren? Wie verhalten Sie sich, wenn Sie an einer Kreuzung links abbiegen wollen, doch vom entgegenkommenden Verkehr zunächst daran gehindert werden? Wenn Sie an eine Kreuzung ohne spezielle Verkehrsregelung kommen, sich zur selben Zeit ein Fahrzeug von rechts nähert und beide Fahrergeradeaus weiterfahren wollen, wer hat dann Vorfahrt? Wie verhalten Sie sich, wenn Sie aus einer Einfahrt in eine Straße einbiegen möchten? Sie fahren auf eine grüne Ampel zu, doch die Fahrzeuge vor Ihnen stauen sich bis in die Kreuzung hinein. Dürfen Sie trotzdem in die Kreuzung hineinfahren? Hat ein Fahrzeug beim Einfahren in einen Kreisverkehr Vorfahrt vor den bereits darin befindlichen Fahrzeugen?‹«
    »Heiliger Strohsack!«, sagt William T. »Ich kann ja nicht mal die Hälfte dieser verdammten Fragen beantworten.«
    »Siehst du?«, sage ich. »Das versuche ich ja schon