Ich lebe lieber hier und jetzt
filmte sie bei der Auswahl ihres Outfits für das bevorstehende
Fotoshooting. Eigentlich war Vanessa ja vorbeigekommen, um Dan beim Packen zu
helfen, aber er hatte ein Notizbuch mit Gedichten entdeckt, die er als Dreizehnjähriger
geschrieben hatte, und war jetzt dabei, es nach zweitverwertbaren poetischen
Perlen zu durchsuchen.
Viel Glück.
Jenny hatte sich dazu
durchgerungen, zum Shooting keinen BH anzuziehen, was sie sich sonst nie
traute - jedenfalls nicht in der Öffentlichkeit. Aber das war noch nicht alles.
Sie hatte außerdem ein himmelblaues Top ausgesucht, das reichlich stramm saß.
»Was ist? Sag schon.«
»Ja, es sieht obszön aus«,
sagte Vanessa trocken, wobei sie sorgfältig darauf achtete, Jenny nur oberhalb
des Halses zu filmen, um nicht zu riskieren, dass ihr Film auf dem Index
landete.
»Echt?« Jenny drehte sich, um
in dem Spiegel am Wandschrank ihren Hintern zu begutachten. In der neuen
Earl-Jeans sahen ihre Beine viel länger aus als in allen anderen Jeans, die
sie besaß. Sie war wirklich ein beeindruckendes Beispiel modernster
Schnitttechnik.
Vanessa machte einen
Kameraschwenk durchs Zimmer. Ein typisches Teeniezimmer. An der Wand hing eine
Collage aus Fotos, die Jenny aus Modezeitschriften gerissen hatte, und daneben
stand ein Regal mit ein paar Mädchenbüchern und halb bekleideten Uralt-Barbies.
Die Kunstwerke an den Wänden waren allerdings echte Unikate. Detailgenaue
Kopien von Klimts »Der Kuss« und ein Windmühlenbild von van Gogh sowie eine
überwältigende Mohnblüte im Stil Georgia O'Keeffes - allesamt von Jenny
höchstpersönlich gemalt.
Vanessa richtete die Kamera
wieder auf Jenny. »Wieso ziehst du nicht einfach ein schwarzes T-Shirt an?«,
schlug sie vor. »Und einen BH.«
Jenny schob die Unterlippe vor.
»Seh ich echt so schlimm aus?«
Plötzlich stand ihr Vater in
der Tür. Er hatte sich die langen Strähnen seiner drahtigen grauen Haare mit einem
von Jennys Haargummis hochgebunden. »Um Gottes willen, Kind - zieh dir was
an!«, ächzte er. »Was sollen die Nachbarn denken?«
Jenny wusste zwar, dass ihr
Vater bloß Spaß machte, doch damit war endgültig klar, dass ihre Aufmachung
nicht mehrheitsfähig war. Sie zerrte ein Sweatshirt aus dem Schrank und zog es
sich über. »Vielen Dank! Nur gut, dass ich dich zum Vater hab.« Sie starrte ihn
wütend an. »Besteht eine Chance, dass ich auch bei euch einziehen kann?«,
fragte sie Vanessa.
»Kommt nicht infrage!«,
entsetzte sich Rufus. »Wer soll mir dann jeden Morgen vor dem Aufstehen den
O-Saft wegtrinken? Wer
blockiert das Butterfach des Kühlschranks mit Nagellackfläschchen und wer
wäscht meine schwarzen Socken mit Wäschebleiche, bis sie rosa sind?«
Jenny verdrehte die Augen. Ihr
Dad wäre echt einsam, wenn er ganz allein wohnen würde. Außerdem wollte sie
eigentlich gar nicht mit Dan und Vanessa zusammenziehen. Die beiden waren ja
jetzt praktisch ein verheiratetes Paar. Das wollte sie gar nicht so genau
mitbekommen.
Auf einmal bekam Vanessa
Schuldgefühle, weil sie Ru- fus Humphrey den Sohn wegnahm, obwohl ihm vor ein
paar Jahren doch schon die Frau weggelaufen war, die jetzt mit einem Baron oder
so was Ähnlichem in Prag lebte. »Am Wochenende kommen wir immer zum Essen
vorbei«, versprach sie ohne große Uberzeugung. »Oder wir kochen zusammen bei
uns. Ruby hat total viel Kochkram. Ich brauche jemanden, der mir zeigt, wie
man die ganzen Sachen benutzt.«
Rufus strahlte. »Ich bring dir
Kochen bei!«
Vanessa drehte an ihrem
Objektiv, um Rufus mit ins Bild zu bekommen. »Mr Humphrey - darf ich Ihnen ein
paar Fragen stellen?«
Rufus setzte sich auf den Boden
und zog Jenny zu sich hinunter. »Klar. Wir stehen beide gern vor der Kamera.«
Er zwickte seine Tochter in die Hüfte.
»Dad!«, quengelte Jenny und
verschränkte die Arme vor der Brust, obwohl sie jetzt doch ihr Sweatshirt anhatte.
»Was ist das für ein Gefühl,
wenn der eigene Sohn allmählich erwachsen wird und bald anfängt zu studieren
und auszieht?«, fragte Vanessa.
Rufus zupfte an dem krausen
grauen Bärtchen, das er sich seit neuestem stehen ließ. Er lächelte, aber seine
braunen Augen schimmerten traurig. »Ach weißt du, im
Grunde ist es höchste Zeit,
dass er auszieht. Wir Amerikaner verhätscheln unsere Kinder. Eigentlich
müssten wir sie in die Schule schicken, sobald sie ihren Kopf gerade halten können,
und mit vierzehn sollten sie aus dem Haus sein.« Er zwickte Jenny noch einmal.
»Spätestens sobald sie anfangen, zu ihren
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