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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Ärzte und Therapeuten, die wir noch kennenlernen sollten. Niemand will ein Kind vorverurteilen. Es ist ja auch schwer, etwas Sicheres zu sagen: Sie sind noch so klein, noch so entwickelbar. So schwer zu beurteilen, vor allem, wenn sie wie Simon praktisch nicht sprechen und sich keinen Tests unterziehen. Gerade bei Autisten, die bislang – neuerdings soll es einen Gehirnscan geben! – nicht aufgrund irgendwelcher genetischer oder anderer Merkmale identifiziert werden konnten, sondern einzig aufgrund ihres Verhaltens, dauert es oft lange, manchmal Jahre, bis die Diagnose steht. Bei uns waren es nur zwei.
    Dr. Wilkes sprach von Entwicklungsverzögerungen, aber auch von Wachheit und Interesse, ja von Ansätzen zu Phantasie- und Rollenspiel. Das kannten wir von zu Hause. Da war Simon etwa der kleine Tiger und ich der kleine Bär, oder sein Vater war Harry Potter und er selbst Ron Weasley. Dabei kam es zu kleinen Spielszenen, man reiste nach Panama, machte Picknicks, fuhr in den Urlaub und räkelte sich am Strand. So etwas, das hatte ich ebenfalls schon gelesen und der Arzt wiederholte es jetzt, war ein eindeutiger Indikator dafür, dass es sich nicht um Autismus handeln konnte . Autisten, das waren diese Kinder, die in der Ecke hockten und nur schrien, wenn man sie anfasste. Nicht Simon, der es schon als Säugling genossen hatte, wenn ich ihm meine Haare kitzelnd übers Gesicht gleiten ließ. Der sich nachts mit Händen und Füßen an meinen Körper klammerte, wenn er schlief.
    Autismus – ich weiß gar nicht, wie dieses Wort an diesem Tag in diesen Raum kam. Das heißt, doch, ich weiß es: Ich hatte die Frage gestellt. »Wir reden hier aber nicht über Autismus, oder?«
    Wie war ich nur darauf gekommen? Vermutlich so, wie Simons Vater auf den Mutismus gekommen war, über das Internet, über das Klicken und Rätselraten auf der Suche nach vergleichbaren Fällen, nach Antworten. War ich im Netz darauf gestoßen? Oder er? Hatten wir einen Verdacht gehegt? So vage – und so schrecklich –, dass wir ihn nicht einmal dem »Manifest« anvertraut hatten? Ich kann es heute nicht mehr genau sagen. Ich weiß nicht mehr, wann das Wort in unser Leben gekommen war, wie lange wir uns damit herumgeschlagen hatten. Aber bei dieser ersten Sitzung war es zu meiner eigenen Überraschung bereits da.
    Ich hatte etwas pampig gefragt, im Tonfall betont lässig, um mir nicht anmerken zu lassen, wie viel Mut mich diese Frage kostete. Dr. Wilkes, das weiß ich auch noch, lächelte und antwortete: »Nein, das tun wir nicht.«

Meine Jahre in der Niemandsbucht
    Fragen Sie mich bitte nicht, wie wir die folgenden zwei Jahre bis zur endgültigen Diagnose herumbekamen mit unserem ›entwicklungsverzögerten‹ Kind; ich weiß es nicht mehr. Ich weiß nur, dass ich froh war, etwas abarbeiten zu können. Simon brauchte eine neue Ergotherapeutin, der etwas mehr zu ihm einfiel als der ersten. Dr. Wilkes hatte uns die Adresse der »Frühförderung Kinderhilfe« gegeben, bei der wir uns umgehend meldeten. Und er hatte uns dringend geraten, für Simon einen neuen Kindergarten mit kleinen Gruppen zu suchen. Kleine Gruppen – im Jahr 2005!
    Ich telefonierte die Kindergärten der umliegenden Gemeinden ab, aber weniger als zwanzig, fünfundzwanzig Kinder gab es nirgendwo. Allenfalls eine etwas kleinere Nachmittagsgruppe könne man uns anbieten. Aber das hätte für mich bedeutet, keine freie Zeit mehr zu haben zum Arbeiten, was schon finanziell prekär gewesen wäre. Jonathan und Simon hätten sich bei diesem Wechselrhythmus kaum mehr gesehen. Außerdem hatte ich so meine Zweifel, ob ein »normaler« Dorfkindergarten mit Simon klarkäme.
    Mir wurde ja selbst ganz schwummrig, wenn ich mich am Telefon hörte: »Ich habe da ein besonderes Kind, mit diagnostizierter Entwicklungsverzögerung und vermutlich einer Angststörung. Mein Sohn spricht nicht, oder eigentlich spricht er schon, aber er kommuniziert nicht, wenn Sie verstehen, was ich meine, er spielt nur mit Wörtern. Er braucht sehr stabile Rahmenbedingungen, Zuwendung und viel Ruhe. Lärm und Bewegung sind für ihn schwierig …« Etc. etc. etc. Ich redete wie ein Maschinengewehr, schnell, um möglichst alles zu sagen, was über Simon zu wissen wichtig war, um nichts zu vergessen, um das Maximum in die kurze Spanne hineinzupacken, die so ein

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