Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Monate Wartezeit für einen Termin veranschlagte. Halb ahnten wir schon, dass es ausgehen könnte wie das Hornberger SchieÃen: keine Ahnung, mal abwarten. Andererseits aber hofften wir so sehr. Auf Erklärung, auf Erleuchtung, Entlastung, Heilung. Mindestens.
Es muss schwer sein, wenn Menschen mit einer solchen Erwartungshaltung zu einem kommen.
Dr. Wilkes residierte in einem Haus in einem Wohnviertel, ich weià noch, dass ich bei unserem Antrittsbesuch im Wartezimmer saà und mich fragte, ob das wohl das Haus seiner Eltern, sein Kindheitshaus war. Aus jedem Detail versuchte ich im Voraus etwas über ihn, und damit über das, was uns hier zustoÃen würde, herauszulesen.
Der Perserteppich auf dem Boden, auf dem Simon bei späteren Besuchen Hüpfen spielen sollte, sah aus, als wäre er ein Ãberbleibsel aus dem früheren Wohnzimmer. Entlang der Fenster standen ungewöhnlich viele Topfpflanzen, die ich zu mögen bereit war. Die Zeitschriften dagegen waren alt und definitiv abstoÃend. Ãberall an den Wänden hing Werbung für die literarischen Arbeiten des Arztes, der offenbar nebenbei schrieb, was mir ja vertraut war und eine Ebene gegenseitigen Verstehens versprach, die ich später im Gespräch auch sofort schamlos antippte. In einer Schale lagen Ãpfel mit einem Schild: ungespritzt aus eigenem Garten. Ein Ãko? Ein netter Mensch?
An der Wand hing eines dieser Leuchtturmbilder von Edward Hopper, ein schönes Gemälde, auf dem das Weià des sonnenbeschienenen Turmes und das des Sommerhimmels ineinanderflossen. Ich schenkte Simons Vater später zum Geburtstag eine Kopie des Bildes. Ich fand es faszinierend, weil man zwar den Finger auf die Stelle legen und sagen konnte: Hier ist Stein, da Licht, für das Auge klar getrennt, und doch gab es keinen Trennungsstrich, nur ein und dasselbe WeiÃ. Wo ging eins ins andere über? Wo war die Nahtstelle, an der unsere Normalität sich in etwas gänzlich anderes verwandelt hatte?
Dr. Wilkes, in den ich schon so viel hineinzuinterpretieren versucht hatte, war ein Mann, der alle Ãngste verfliegen lieÃ. GroÃ, mit krausen Haaren und hellblauen Augen in einem Gesicht, das höchst kindlich wirkte. Ein Zauberer für Kindergeburtstage, das fiel mir als Erstes zu ihm ein. Er war warm und herzlich mit uns, später, beim zweiten Termin, auch mit Simon, er bot ihm Stifte und Spielzeug an, umarmte ihn mit seiner sicheren Stimme.
Auch er hatte das »Manifest« von uns erhalten, zusätzlich verbrachte er eine Spielstunde mit Simon. Wir waren auf alles gefasst gewesen: Verweigerung, Tränen, Geschrei. Darauf, mitgehen zu müssen und uns auf den Boden zu unserem Sohn zu hocken, um Simon zu erklären, zu animieren, zu beschützen, abzuschirmen. Wie ich es immer tat, wenn wir mit anderen Müttern und Kindern, mit Ãrzten oder Therapeuten zusammen waren. »Er macht das, weil â¦Â« â »Das macht er immer so.« â »Er hat das nicht so gerne.« â »Mit Simon ist es einfach so, dass â¦Â« â »Tun Sie einfach dies oder das, dann wird das schon.« Ich war längst eine Simultandolmetscherin von Simons Verhalten geworden, und das, obwohl er eine Sprache sprach, die ich gar nicht beherrschte. Aber wer kannte ihn denn, wenn nicht wir?
Dr. Wilkes fragte Simon nur, ob er mit ihm nach oben spielen gehen wolle. Und unser Sohn gab ihm die Hand und sagte schlicht: »Ja.«
Wir fassten es nicht, es wirkte alles so unkompliziert. Wir liebten diesen Mann von diesem Augenblick an. Genauso, wie wir wenig später Simons neue Ergotherapeutin lieben sollten, die uns mit den Worten begrüÃte: »Da haben Sie aber ein interessantes Kind.« Simon, mit perfekten Antennen ausgestattet, verlangte schon nach der ersten Sitzung von sich aus, »zur Brigitte« gehen zu wollen.
Sie wollten also spielen gehen, mein Sohn und der nette Arzt. Das taten sie dann auch, einfach so, all unseren Voraussagen zum Trotz. Wir waren platt. Und so voller Hoffnung. Wenn wir hier schon falschgelegen hatten, dann ja vielleicht auch bei all unseren anderen Befürchtungen. Für eine halbe Stunde, die wir warteten und auf den Hopper starrten, waren wir bereit, jedes Fünkchen Hoffnung, das der Arzt in uns zündete, zu einem GroÃfeuer werden zu lassen. Dabei hatte er uns, nüchtern betrachtet, gar keine Hoffnungen gemacht. Er war vorsichtig, genau wie die meisten
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