Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
wurde viel zusammengearbeitet. Peter war der Hauptbetreuer, aber reihum ging ihm jeden Tag ein Elternteil zur Hand, im Schnitt war man zweimal im Monat dran und hatte sich entsprechend in einen Kalender einzutragen. Freitags, wenn Peter frei hatte, schmissen zwei Elternteile alleine den Laden.
Vor diesen freien Tagen hatte ich ordentlich Bammel. Ich hatte nie beruflich mit Kindern arbeiten wollen und Menschen, die solche Vorhaben verkündeten, niemals verstanden. Ich hatte es ja sogar vermieden, ein Staatsexamen abzulegen, um nicht in Zeiten äuÃerster Not doch in Versuchung zu geraten, an eine Schule zu gehen. So wie es die meisten meiner Kommilitonen früher oder später getan hatten. Für mich war diese Vorstellung blanker Horror gewesen. Genau das hatte ich jetzt einmal monatlich. Ich stand vor einer Gruppe Kinder und musste zusehen, dass ich mit ihnen klarkam.
Aber letztlich überwogen die Vorteile bei weitem. Ich konnte von den anderen nur lernen. Von Peter seine klare Linie, von den anderen Eltern nahm ich Ideen und Initiativen mit â und lernte aus ihren Fehlern. Nicht zuletzt lernte ich von den Kindern, was ich vergessen hatte: was eigentlich »normal« war. Denn auch Simon war ja nicht nur Krankheit â oder Trauma, oder was auch immer â, er war bis zu einem gewissen Grad ein ganz normales Kind mit ganz normalen Macken und nervtötenden Angewohnheiten, wie die anderen sie auch besaÃen. Das verlor man leicht aus dem Auge, wenn man nur ihn sah.
Ein weiterer Vorteil des Dienstes war, dass ich selbst ein Auge darauf haben konnte, wie Simon sich verhielt, wie er mit den anderen Kindern zurechtkam, wo es hakte, was er mochte, was möglich war. Ich konnte die Kontakte zu den Kindern, an denen er ein gewisses Interesse zeigte, mitpflegen, ihnen Simon ein wenig erklären, sie zu uns einladen und ihm so vorübergehend so etwas wie Freundschaften ermöglichen.
Freundschaften â einfach war das nicht. Simon zeigte zwar hin und wieder Interesse an anderen Kindern, er umarmte sie, oft so heftig, dass es ihnen unangenehm war, er roch an ihnen und versuchte sie auszuziehen. Aber er hatte keine Ahnung, wie man mit jemandem etwas gemeinsam tat, noch dazu etwas so Komplexes wie spielen.
So war ich die Ansprechpartnerin der Kinder, die uns besuchten, ich plauderte mit ihnen, sorgte dafür, dass sie sich wohl fühlten und die ein oder andere Bizarrerie in Simons Verhalten übersahen â was einfacher war, solange sie klein waren, ab dem Schulalter wurde das schwierig. Heute ist es nahezu unmöglich, und es gibt keine anderen Kinder mehr in unserem Leben.
Damals tischte ich SüÃigkeiten auf und machte Spielvorschläge. Die Kinder kamen zumindest anfangs meist gerne, weil man bei uns viel durfte, und weil ihnen ein Erwachsener so viel Beachtung schenkte. Andere Mütter luden Kinder ein, damit die sich miteinander beschäftigten und sie selbst ein paar Stunden Ruhe hatten. Bei uns war es umgekehrt, es war die doppelte Arbeit. Manchmal verbrachte ich den ganzen Nachmittag alleine mit den kleinen Besuchern, notgedrungen, weil Simon bei nichts mitmachen wollte. Immerhin konnte ich hoffen, dass er zusah und sich auf diesem Wege abschaute, wie das ging: spielen, miteinander reden, sich beschäftigen. Trotzdem kam ich mir dumm vor an diesen Nachmittagen. Ich musste das Fremdkind entertainen und gleichzeitig versuchen, Simon anzulocken, einzubeziehen und zu betreuen, was nicht leicht war. Zum einen interessierte ihn das wenigste, zum anderen hatte er einen ausgeprägten Besitzerinstinkt, was mich betraf. Er wollte mich für sich, am liebsten alleine, und quengelte und blockierte entsprechend. An manchen Tagen war es eine regelrechte ZerreiÃprobe, und ich war nur froh, wenn das andere Kind wieder ging.
Verstecken zu spielen war so eine Prüfung für mich: Simon mochte es, brauchte mich dabei aber an seiner Seite. Alleine versteckte er sich nicht, er hockte sich einfach irgendwo lächerlich sichtbar hin. Oder er kam mitten im Spiel aus der Deckung hervorgesprungen, lachte und freute sich, ohne eine Idee, dass er dem Suchenden damit den ganzen Spaà verdarb. Also versteckten wir uns immer gemeinsam. War er der Sucher, musste ich ihn antreiben, damit er nachforschte und nicht einfach weglief. Gleichzeitig gab ich die notwendige Geräuschkulisse von mir, um das andere Kind bei der Stange zu halten: »Komisch, hier ist er nicht?« â »Ja,
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