Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Gespräch bot. Um mit irgendetwas von dem, was ich da erzählte, ein Echo auszulösen. Um nicht beim Sprechen von der eigenen Traurigkeit überholt zu werden.
Ich redete mir den Mund fusselig und war danach jedes Mal vollkommen erschöpft, wie erschlagen vom eigenen Unglück, das ich da immer wieder ausbreitete. Die nächste Telefonnummer wartete schon.
Bald blieben nur noch der Waldkindergarten, zwei Stätten für verhaltensauffällige Kinder und eine private Gruppe übrig. Ich telefonierte und erklärte, warb und bettelte, machte überall Besichtigungstermine aus, zum Teil gab es auch noch Vorgespräche. Die erste der beiden sonderpädagogischen Tagesstätten fiel für mich sofort beim Betreten aus, nicht nur, weil ich noch immer Berührungsängste mit dem designierten Bereich des »Anormalen« hatte. Dort sah einfach alles nach sozialer Einrichtung im schlimmsten Sinne aus, armselig, abgeschabt, selbst die Erzieher wirkten wie Sozialfälle. Und die Kinder waren, so teilte man mir unumwunden mit, groÃteils verhaltensgestört im Bereich der Aggressionskontrolle. Was sollte mein Mimosenkind dort? Das niemandem erzählen konnte, was ihm zustieÃ, das nicht einmal sagen konnte: »Lass das!« und ein gefundenes Opfer für jede Form von Mobbing und Missbrauch war.
Die zweite Tagesstätte hatte eine sehr einfühlsame Leiterin, die sich im Vorgespräch so verständnisvoll gab, dass ich meinen damaligen Mann zum ersten Mal den Tränen nahe sah. Nachdem der Satz gefallen war: »Ich sehe doch, wie Sie leiden.«
Beim Besuch der Gruppe selbst war ich dann mit Simon allein. Es war anstrengend, zwischen ihm und den Abläufen dort zu vermitteln, abwechselnd wollte ich ihn abschirmen oder heranführen, ihn erklären oder darauf warten, dass die anderen ihm etwas erläuterten, ihn motivierten und dämpften.
Es lief gar nicht schlecht, allerdings wirkte manches auf mich arg rigide geregelt. Auch gab es in der Gruppe ein spastisch gelähmtes Kind, das nur dalag und gefüttert werden musste; der Brei quoll ihm immer wieder aus dem Mund, ein Anblick, der mir damals noch neu war und mich zutiefst verschreckte. Ausschlaggebend für unsere Entscheidung war dann allerdings ein Ritual bei Tisch. Ein Kind hatte Geburtstag, und offenbar war es üblich, dass jedes der anderen Kinder zu diesem Anlass einen Wunsch aussprach. Ein Mädel stand da, ohne eine Idee zu haben, und die Kindergärtnerin soufflierte ihr einen möglichen Wunsch: »Willst du ihr nicht wünschen, dass sie Satan widersteht?« Damit waren wir zur Tür hinaus.
Auf dem Weg zum Auto sagte ich zu Simon, noch zweifelnd und meine Eindrücke wieder und wieder überprüfend: »Das ist vielleicht dein neuer Kindergarten.« Mein Kind, das nur Einwortsätze sprach, Kinderlieder und Nonsens von sich gab, sagte leise, aber glasklar: »Das wäre schade.«
Wir gingen nie wieder dorthin.
Mein persönlicher Favorit wäre der Waldkindergarten gewesen, aber Simon stand bei unserem Besuch so verloren zwischen all den Bäumen herum, dass ich Angst um ihn bekam. Es schien mir eindeutig, dass er sich in geschlossenen Räumen sicherer fühlte. Vielleicht war es sogar so, dass er die Begrenzung brauchte, um überhaupt seine Wahrnehmung fokussieren zu können. Mir war schon öfter aufgefallen, dass er, wenn ich auf etwas Entferntes zeigte â etwa auf einen Vogel im Baum â, Mühe hatte, mit den Augen meinem Finger zu folgen und das wahrzunehmen, was ich ihm zeigen wollte. Sein Blick irrte umher, so wirr, dass ich am Ende gar nicht mehr wusste, was er sah und ob er überhaupt etwas sah. Vor allem im Freien schien er sich wie ein Bild ohne Rahmen zu fühlen.
Die Menschen im Waldkindergarten waren die Ersten, die mit Sympathie und Neugier auf Simon reagierten. Einer der Vorstände, eine Kinderpsychologin, rief mich sogar an, um mir zu sagen, dass sie gespannt auf Simon seien, und dass ich mir keine Schuldgefühle machen solle. Das täten Mütter häufig, aber das sei unnötig. Einfach um mir diesen Trost zu spenden, hatte sie sich gemeldet, eine mir völlig unbekannte Frau! Ich war tief gerührt. Es war der erste positive Moment seit vielen Wochen. Aber: Der Wald war vorerst noch zu groà für mein Kind.
Blieb also die private Kindergruppe. Sie residierte in einem ehemaligen Kiosk aus den Fünfzigern, der übrig geblieben
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