Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
verborgen brodeln. Zeigen tut er selten etwas davon. Oder er arbeitet an seinen Geschichten â ja, auch er schreibt, es müssen wohl die Gene sein â über Menschen, die in Trostlosigkeit und Verzweiflung untergehen. Manchmal flehe ich ihn an um ein Happy End, weil ich die Ausweglosigkeit der Schicksale, die er in seinen Fantasy-Stories entwirft, nicht ertrage. Dabei bin ich jemand, der wirklich harte Krimis mag und Zombiefilme anschaut.
Aber die Frage, wo er das nur herhat, erübrigt sich wohl.
Oft denke ich, dass in seinem Leben etwas fehlt, eben die Revolution, der Aufstand, dass er mich in Frage stellt, mich angreift, statt zu schonen, ScheiÃe baut, was auch immer. Dass er sich erprobt, sich abnabelt. Für ihn wäre das wirklich notwendig.
Vor kurzem sprach ich mit einer Frau meines Alters, Julia Moll-Rakus, von der auch das Gedicht stammt, das am Ende dieses Kapitels steht. Sie ist die Schwester eines Autisten und hat mir bestätigt, dass sie genauso war: dass sie still und brav durchs Leben ging, erst mit dreiÃig die Auseinandersetzung mit den Eltern suchte und bis heute die revolutionären Anteile in ihrem Leben vermisst.
Sie hat aber auch um Verständnis geworben. »Wir sind die ruhig brennenden Kerzen gewesen«, sagte sie über ihre Schwester und sich, »und mein Bruder war der brennende Topf auf dem Herd. Ist doch klar, dass man sich zuerst um den Topf kümmert.«
Natürlich bin ich im Grunde froh, dass der Aufstand nicht stattfindet, nicht noch mehr Ãrger, nicht ohne Hilfe dastehen müssen, aber ich schäme mich dafür ein wenig.
Neulich, ich war schon fast dankbar, klingelte nachts um vier das Telefon. Mein Sohn war angetrunken mit dem Rad in einen Lichtschacht gefallen und musste, da fahruntüchtig, abgeholt werden. Wenigstens etwas, dachte ich. Dabei war er so klug gewesen, vor einem Krankenhaus zu stürzen, und mit den Sanitätern ging er freundlich und formvollendet um. Er ist ein Schatz, wenn er angetrunken ist. Am nächsten Tag meinte er nur, die Erfahrung sei nicht so gewesen, dass er sie wiederholen wolle. Das hat er bisher auch nicht getan. Es erübrigt sich zu sagen, dass er meine Sicht dieses Ereignisses für idiotisch hält.
Eine zweite Angst ist, dass er das Muster, nach dem er mit uns zu leben gelernt hat, später in seine Beziehungen hineinträgt, dass er immer derjenige sein wird, der zurücksteckt, sich beherrscht, akzeptiert und eine Liebe hinnimmt, die ihn im Grunde zerstört. Mit Worten versuche ich, dem vorzubauen, ihm Ratschläge zu geben, ihn zu ermuntern, er selbst zu sein.
Aber was sind Worte gegen das schlechte Beispiel, das ich ihm vorlebe?
Als mein Freund bei uns einzog, ist Jonathan gegangen. Seitdem lebt er mit seinem Vater, besucht mich aber regelmäÃig. »Du weiÃt hoffentlich, dass ich dich nicht hasse. Jedenfalls nicht immer«, hatte er nach dem groÃen Streit, unserem ersten jemals, zu mir gesagt. Wir versöhnten uns ganz und gar. Oft kommt er nach der Schule vorbei. Oder wir gehen essen, in Buchläden kruschen und reden über das Leben. Was wir miteinander immer noch so gut können wie mit niemandem sonst. Ich ertrage, dass er aufblüht, seit er von mir fort ist. Es ist gut so, er hat einen verdammt guten Job gemacht in seiner Autistenfamilie und sein eigenes Leben mehr als verdient. Auch wenn das, was für ihn kaputtgegangen ist, nie wieder repariert werden kann. Ich kann noch so viele Bücher zum Thema Autismus lesen, Artikel darüber, dass Geschwister von Autisten nach den Jugendjahren der Belastung ganz viel profitieren von der enormen sozialen Kompetenz, die sie durchs Rücksichtnehmen und Zurückstecken und Kein-Problem-sein-Wollen erworben haben. Der Preis, den sie dafür zahlen, ist furchtbar hoch. Manchmal denke ich, man muss Jonathan eher mit den Kindern von Eltern vergleichen, die sich auf irgendeine Weise selbst zerstören, durch Drogen, Alkohol, Spielsucht.
Unsere, meine Sucht heiÃt Autismus. Um sie dreht sich alles in meinem Leben und dadurch notgedrungen auch in Jonathans Leben.
Es geht nicht nur darum, dass ich ein bisschen weniger Zeit für ihn hatte, okay: viel weniger Zeit. Es geht eher darum, dass er nicht leiden durfte, weil er wusste, noch mehr Leiden hätte ich nicht ertragen. Dass er nicht schwierig sein durfte, weil schon jemand anderes schwierig war. Dass er erwachsen sein musste, weil ich jemand Erwachsenen an
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