Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
für die sichere Bank hielt und Simon für das Problem. Weil ich »ein egoistisches Miststück« bin. Natürlich auch, weil ich seinen Vater verlieÃ. Und weil ich, als ich ein bisschen wieder aufblühte und zu meinem vermeintlichen alten Ich wurde, ich das an der Seite eines Mannes tat, mit dem Jonathan nicht auskam, so dass er wieder auÃen vor blieb.
Ich führte mit ihm kürzlich ein Gespräch über die Möglichkeit, Simon in näherer Zukunft in ein Heim zu geben, für mich ein schmerzliches, tabubesetztes Thema, und ich fragte ihn, was er davon halte. Er antwortete, er sei dafür, er wünsche sich seine Mutter zurück, so, wie sie einmal gewesen sei. Ich nahm ihn in den Arm, versicherte ihm, dass ich ihn liebe, wie ich ihn immer geliebt habe. Und dachte zugleich, dass es, egal, was kommt, für Jonathans Kindheit zu spät ist. Bis Simon fort ist, wird er erwachsen sein. Nichts kann nachgeholt werden.
Das Schlimmste ist, ich weià gar nicht mehr, wie ich einmal war und welche Person genau ich ihm zurückgeben müsste. Ich werde mir immer vorwerfen, dass ich nicht stärker war für Jonathan. Dass ich ihm die Bilder nicht erspart habe, wie ich, erschöpft und übermüdet von einer Nacht voller Kämpfe mit Simon, den Vormittag im Bett lag wie eine Tote und erst aufstand, wenn er aus der Schule kam, um ihm sein Essen zu machen. Wie ich mich in mein Zimmer einschloss zum Weinen. Wie ich Simon anschrie und er mich. Wie er nach mir schlug und ich ihn umklammert hielt, damit er mich nicht biss. Wie mein Mann und ich hilflos waren. Wie wir flüchteten, vor dem Leben, das wir führten, er an seinen Computer und ich in Krankheit und Schlaf. So etwas sollte ein Kind nicht erleben.
»Ja, das war schlimm«, gab Jonathan zu, als ich ihn neulich danach fragte. Der Autismus an sich sei es eigentlich nicht gewesen. Simon eigentlich auch nicht. Dank Werner hätte er ja all seine negativen Gefühle auf jemand anderen projizieren können, jemand anderen anschreien und schlagen können und Simon trotzdem lieben. Dann fragte er wieder, besorgt wie immer, was er am häufigsten fragt: »Geht es dir gut?«
Jonathan hat sich angewöhnt, in mir jemanden zu sehen, der sein Leben nicht im Griff hat, trotz aller Stärke, die auch da ist und auf die er sich trotz allem verlässt. Er fragt mich, wenn er etwas sucht, weil er weiÃ, dass ich es finde. Er weià auch, dass ich es hinkriege, wenn er fünf vor sechs noch Overhead-Folien braucht für ein Referat am nächsten Morgen. Dass ich die meisten seiner Fragen beantworten kann oder die Antwort irgendwo finde. (Meist fällt sie länger aus, als Jonathan lieb ist.) Dass ich ihn trösten kann. Zum Beispiel, wenn er weinend im Bett liegt und sich Sorgen macht, er könnte ein Aspergerautist sein und wie sein Bruder. Wenn er sich auf dem Schulhof so verloren vorkommt, weil er gar nicht versteht, worüber die anderen da reden und warum. Wenn er sich wie ein Alien fühlt. Er weiÃ, dass ich ihn ernst nehme und etwas zu sagen habe, und er hört mir zu. Er weiÃ, dass wir dieselben Filme mögen und dieselben Zitate aus Büchern, dass wir miteinander lachen können. Dass wir uns sehr, sehr nahe sind.
Und doch.
Ich wiederum betrachte meinen stillen Sohn mit Besorgnis. Er ist so altklug, so erwachsen, so zurückgenommen. So leise. Nie poltert er durchs Haus. Nie macht er etwas kaputt. Wenn seine Schulkumpels unten im Garten auf ihn warten und dabei auf dem Trampolin hin und her springen, dann schreien sie und grölen in einer Lautstärke, dass ich regelrecht erschrecke. Dabei ist das wohl das Normale. Bei uns dagegen geht es gedämpft und überaus gesittet zu. Jonathan fragt höflich, ob er helfen kann. Er fügt sich in seine Rolle, begehrt nie auf. Allenfalls kriege ich mal ein pampiges Nein zu hören, wenn er nicht schon wieder Lust hat, seinen Bruder eine Stunde zu sitten, damit ich schlafen kann. Meist aber tut er es, er weià ja, ich bin erschöpft.
Jonathan ist jetzt siebzehn, aber weit und breit keine Spur von Pubertät. Er rebelliert nicht, er hat gute Noten, er bringt den Müll raus, er knallt keine Türen. Er schlieÃt sie nur ab, schlieÃt sich ein, spielt stundenlang Computer oder hört die dunkle Musik, auf die er steht; Lieder, in denen es um Liebe, Tod und Verzweiflung geht und all die extremen Gefühle, die in ihm nur ganz, ganz tief
Weitere Kostenlose Bücher