Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
deren Wirkungslosigkeit einsehen musste? Ich selbst hatte so viele Abende damit verbracht, neben Simon zu liegen, meine Stirn an seine gelehnt, und zu hoffen, die Kraft und Gesundheit aus meinem Hirn möge in seines flieÃen. Alles, alles hätte ich gegeben. Das Ergebnis war vorhersehbar.
Jonathan fuhr fort, er habe eines Tages begriffen, dass es kein Gott war, mit dem er da verhandelte. Es war Werner. Werner, der überall hin vorgedrungen war und uns bis in den letzten Winkel manipulierte.
Da habe er aufgehört zu verhandeln und stattdessen begonnen, Werner zu hassen. Wenn Simon nun einen seiner Anfälle bekam, zog Jonathan sich zurück, so erzählte er mir, und lästerte Werner, verspottete ihn, fragte ihn, ob das alles sei, was er zu bieten habe, und schwor ihm, dadurch noch längst nicht besiegt zu sein.
Und wir dachten, er würde fernsehen.
Jonathan sagt, er habe davon abgesehen, Werner zu schlagen, indem man Simon töte. Dass das nicht gehe, sähe er ein. Er für seine Person könne den Kampf führen, sein Hass sei eine gute Kraftquelle. Aber er sorge sich um uns. Er habe Angst, Werner könne uns zerstören, so dass wir auf eine Weise, die er nicht näher zu benennen vermochte oder wagte, verschwänden.
Ich versuchte, ihm zu erklären, dass ich in Werner weniger einen Angreifer sähe, sondern eher so etwas wie einen Riesenwelpen, der noch nicht erzogen sei und nicht wisse, was gut und böse sei, was erlaubt ist und was nicht, und was seine Kraft bei anderen anrichten könne. Jonathan meinte, er fände diese Perspektive interessant.
Autismus heiÃt, es normal zu finden, solche Gespräche nachts um eins auf der Bettkante zu führen.
Das ist eine Tagebuchaufzeichnung, die mich selbst nach all den Jahren, die seitdem vergangen sind, noch immer erschreckt. Die nie aufhören wird, weh zu tun. Jonathan liebt seinen Bruder und hasst ihn im selben Moment. Er hat Angst, dass Simon seine Eltern zerstört, dass er sie verliert, für immer. Heute glaubt Jonathan nicht mehr an Werner, er weià inzwischen genau wie wir viel über Autismus. Aber an der Gefühlslage hat sich nichts geändert.
Drei Jahre später notiere ich in mein Tagebuch:
Gestern setzte sich Jonathan abends neben mich auf den FuÃboden und brach in Tränen aus. Ich saà »Wache« im Flur wie jeden Abend, darauf wartend, dass Simon aufhört, immer wieder aus dem Bett zu springen, zu kichern oder zu schreien, und dass er endlich einschläft.
Das kann eine halbe Stunde dauern oder zwei. Heute schrie er, dieses schrille Schreien, bei dem er sich auf den Kopf schlägt. Will man ihn stoppen, schlägt er nach einem. Es ist noch neu, erst ein paar Wochen alt, und es waren harte Wochen, voller Schlafmangel und Hilflosigkeit und Aggression. Jetzt hatten wir das dank einem neuen Medikament eingedämmt auf ein paar wenige Episoden, meist schlichte Wutanfälle, oder Zwischen-Zustände morgens und abends, wenn er müde war oder überreizt oder zwischen Wachen und Traum nicht recht zu unterscheiden vermochte.
Vermutlich dachte Jonathan, es gehe wieder los mit den gröÃeren Anfällen. Oder er war mitgenommen von der letzten Zeit; das Schreien kann echt an den Nerven zerren. Ab drei Uhr morgens schlief bei uns tagelang keiner mehr. Und er hat mich übermüdet und überfordert erlebt. Nicht schön, die Mutter so zu sehen, auch wenn man schon sechzehn ist und an die Allmacht und Unfehlbarkeit der Eltern nicht mehr glaubt. Jedenfalls sank er neben mir zusammen, schluchzte los und erklärte: »Ich werde nicht zusehen, wie er dich kaputtmacht.«
Ich lächelte, obwohl mir auch die Tränen kamen, und versicherte ihm, ich sei noch lange nicht kaputt. Dabei verdrängte ich, dass ich genau das dem Kinderpsychiater vor einer Woche gesagt hatte: dass ich am Ende sei. Daraufhin hatte er Simon Tavor verschrieben. Jetzt schläft das Kind nachts, zuverlässig und, mit einer Unterbrechung, während der er zu mir ins Bett klettert, bis ca. 6 Uhr morgens. Das ist eine Revolution in meinem Leben. Ich kann mich abends hinlegen und weiÃ, ich werde schlafen. Ich verbringe meine Tage nicht mehr am Rande meiner Kräfte entlangtaumelnd, jedenfalls sicher bald nicht mehr. Im Moment bin ich immer noch so müde, dass ich ausgedehnte Mittagsschläfe mache oder gleich nach dem Frühstück wieder ins Bett gehe. Letzteres ist besser, dann kriegt
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