Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
umgangssprachlich, ohne das Wort Asperger zu verwenden. Ihm war aufgefallen, dass Jonathan sich beim Schwimmen von den erwünschten Raufereien am Ende fernhielt, bei denen die anderen sich begeistert auf den Lehrer stürzten, um ihm den Wasserball abzujagen. Jonathan dagegen vermied körperliche Berührungen. Simon war damals noch nicht diagnostiziert, und ich steckte mitten in der »Trotzphase«. Ich musterte den Mann von oben bis unten und dachte nur: Ich wollte dich auch nicht anfassen.
Als ich später nach einem Namen für Simons Krankheit gesucht hatte, war ich auch auf das Aspergersyndrom gestoÃen. Ich las die Listen mit den Symptomen im Internet durch und dachte, das trifft alles eher auf Jonathan zu als auf den Kleinen. Als Jonathan an der Schwelle zur Pubertät stand, fragte ich mich, ob mein groÃer Sohn nicht in der Tat einen Asperger-Streifschuss hatte. Ich hatte sogar schon einen Termin bei Dr. Wilkes, um ihn testen zu lassen, zog dann aber zurück. Es war schiere Angst. Angst davor, das emotional nicht zu packen, nicht auch noch Jonathan. Angst, wie mein Sohn reagieren würde. Vielleicht würde er es mir verübeln, dass ich ihn pathologisierte, dass ich nicht das Vertrauen in ihn hatte, gewisse Eigenheiten nicht als Teil seines Wesens akzeptierte. Es ist etwas anderes, ob man von seinen Eltern zum Arzt gezerrt wird, oder ob man von sich aus den Wunsch äuÃert, getestet zu werden.
Als Jonathan eines Abends zu uns kam und sagte, er wolle sich untersuchen lassen, gingen wir zu Dr. Wilkes. Der Test verlief negativ: Der Junge sei empathisch und in hohem MaÃe schwingungsfähig, lautete das Urteil, in keinem Fall autistisch. Nur jemand, der vorgeschädigt war wie wir, einschlieÃlich Jonathan selbst, hatte wohl je auf eine solche Idee kommen können.
Jonathan ging seinen Weg durch die Pubertät weiter, ohne den Ausweg einer Krankheit, aber auch ohne die Bürde einer Krankheit. Was an ihm autismusähnlich schien, löste sich Stück für Stück von selbst, sein Humor, seine Selbstironie, sein Einfühlungsvermögen und seine kritisch-geistreiche Art traten mehr und mehr in den Vordergrund. Er wird nie Mainstream sein, und das ist gut so. Viele meiner Freunde waren und sind Fans von Jonathan, lassen ihn grüÃen und fragen nach ihm, jetzt, wo er ausgezogen ist. Er geht seinen besonderen Weg. Ich bin sehr stolz darauf, diesen Weg noch lange als eine Vertraute verfolgen zu dürfen.
Das folgende Gedicht begleitet mich schon viele Jahre. Ich finde, es umfasst alles, was die Geschwisterbeziehung zu einem Autisten ausmacht. Ich danke Julia Moll-Rakus dafür, dass ich es abdrucken darf. Und mindestens ebenso für unseren Mailkontakt.
Der Schlüssel
(gewidmet meinem Bruder, dem Autisten)
Du kommst herein, bist ohne Ruh
und deutest stumm auf einen Fleck.
Wo ist der Schlüssel?
Er ist weg!
Ich schlieÃe meine Augen zu
doch dass ich mich vor Dir versteck
gelang mir nie,
hat keinen Zweck.
Dein Blick sagt mir: Sieh her, ich leide!
Komm, lass uns suchen alle beide!
Erst wenn den Schlüssel wir gefunden
hat meine arme Seele Ruh.
Sonst plag ich Dich noch viele Stunden
ein Kampf wohl über tausend Runden
und niemand siegt.
Nicht ich, nicht Du.
Ach lass mich liegen, ich bin müde
der Tag war lang, ich bin geschafft.
Ich kann mich jetzt nicht überwinden
doch morgen werden wir ihn finden
nur jetzt, jetzt hab ich keine Kraft.
Die Tür schlägt zu, doch Du kommst wieder.
Noch immer liegt er nicht am Ort.
Du könntest Dir die Haare raufen
läufst wie ein Tier in Achterschlaufen
und deutest weiter, immerfort.
O gib doch endlich einmal auf!
Kannst Duâs denn nicht einmal nur vergessen?
Was geht Dich denn mein Schlüssel an?!
Wie man nur so verbohrt sein kann!
So hartnäckig und so besessen!
Es heiÃt, der Klügere gibt nach.
Wie klug Du bist, kann niemand wissen.
Dein Geist ist uns schon lang entrissen
und Deine Stimme, sie liegt brach.
Du lebst in Deiner eigenen Welt
und zwischen uns ein eisern Tor.
Wie gerne drückt ich da den Knauf
und schlösse diese Türe auf,
doch sie bleibt zu und wir davor.
Du tust mir leid, drum helf ich Dir,
nicht immer gern, doch immer wieder.
Ich leg den Schlüssel an den Ort,
sing Dir die alten Kinderlieder.
Auch wenn Du mir kein Lächeln schenkst,
keins schenken kannst, auch keinen Blick
und ich nie weiÃ, was Du wohl denkst
ich denk an Dich und wünsch Dir Glück.
Ich
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