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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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meiner Seite brauchte. Dass er mich lieben musste, weil jemand es ja tun musste. Und weil er Angst um mich hatte. Um ihn selbst konnte es eigentlich nur gehen, wenn Simon nicht da war oder wenn er schlief. Dann atmeten alle auf, alle entspannten sich, die ersten Scherze fielen, die ersten Fragen wurden gestellt, alle wurden wieder ein wenig sie selbst. Nicht umsonst haben wir die meisten unserer wichtigen Gespräche nachts geführt.
    Hätte ich Simon weggeben sollen?
    Ich konnte es nicht, ich kann es nicht, ich kann es bis heute nicht. Nicht einmal jetzt, wo ich einen Freund habe, der Simon mit fremden, distanzierten Augen betrachtet und sagt: »Du projizierst da etwas hinein. Heb dir deine Gefühle auf für etwas anderes.«
    Das hat Jonathan nie gesagt. Er hätte viel zu viele Sorgen gehabt, damit meine Gefühle zu verletzen. Aber vielleicht ist auch das eine meiner Projektionen.
    Jonathans Verhalten Simon gegenüber war gespalten; sicher, da war immer eine Form von Liebe, aber eine, die gegen Werner, der sich seines Bruders bemächtigt hatte, ankämpfen musste. Mal schrie er Simon an, schmiss ihn aus seinem Zimmer und ging auf ihn los, wenn er auf mich loszugehen drohte, als müsse er mich gegen einen wilden Hund verteidigen. Mal streichelte er ihn oder ließ sich von ihm anfassen, mit geschlossenen Augen, half ihm endlos beim Playstation-Spielen und fragte mich: »Glaubst du, er weiß, dass ich ihn liebe?«
    Ich habe keine Ahnung.
    Vor kurzem hat Simon gelernt, durch Tippen auf einer Buchstabentafel zu kommunizieren. Ich fragte ihn im Zuge eines Lernprogramms nach seinen Eigenschaften. Simon tippte: »zornig«. Ich fragte, warum, und er antwortete tippend: »Weil: Jonathan ist normal.«
    Ich gehe also davon aus, dass Simon eifersüchtig ist auf seinen Bruder. Aber ich glaube auch, dass er an ihm hängt, das merke ich an dem eifrigen Handwedeln, dem Grinsen und Quietschen, wenn ihm in Aussicht gestellt wird, dass Jonathan etwas mit ihm unternimmt.
    Â»Jonathan ist normal.« Was immer das heißt.
    Dass er sich selbst nicht so sah, erlebten wir, als Jonathan fünfzehn war. Und ihm der Verdacht kam, er könne so sein wie sein Bruder. Ganz hatte sich das nicht von der Hand weisen lassen. Die Pubertät war für Jonathan eine besonders schwierige Zeit. Dass es so sein würde, hatte ich lange vorher gewusst. So lange schon war er ein Außenseiter in der Schule, anerkannt zwar und nie in die Opferrolle abgleitend, aber immer am Rande entlangbalancierend, mit einem intellektuellen Weltzugang und mit Interessen, die denen seiner Altersgruppe meist weit voraus waren. Dagegen ohne jedes Interesse an ihren Gruppenspielen und Rangeleien. Jetzt, wo alle wie wild in ihre Peergroups drängten, zu Partys, Alkohol und ersten Liebesgeschichten, wurde der Unterschied überdeutlich.
    Ich kannte seine Lage, ich war in derselben gewesen in seinem Alter: wollte dazugehören und litt einerseits unter der Einsamkeit, andererseits fühlte ich mich nirgends wohl und teilte die Interessen meiner Altersgenossen nicht wirklich. Wie Jonathan sagte: um des Dabeiseins willen würde man sich dazu stellen und zuhören bei Dingen, die einen langweilten, versuchen, auch etwas zu sagen zu Themen, die einen im Herzen nichts angingen, und sich verzweifelt fragen, warum man sich so fremd fühlte und ob es denn keinen Ort auf der Welt gäbe mit Menschen, die einem ähnelten.
    Für mich endete diese Leidenszeit – abgesehen von einem kurzen Intermezzo in der elften Klasse, als ich die erste Clique meines Lebens fand – erst an der Universität. Ich wünschte Jonathan, dass es bei ihm schneller ging. Immerhin hatte er Freunde, und er hatte seinen Kampfsport und die Geschwisterkinder-Treffen in der Langau, die ihm so viel bedeuteten und wo er viel Zuspruch erhielt.
    Trotzdem hatte ich Angst. Denn seine Einsamkeit war in dieser Zeit ausgeprägter, als meine es im selben Alter gewesen war. Noch mehr als ich brauchte er breite Ränder um sein Leben, zog sich stärker in sich selbst zurück. Soziale Kontakte schienen ihn regelrecht anzustrengen, als er noch jünger war, hatte er nach der Schule oder einem Nachmittag bei Freunden Stunden der Erholung gebraucht. Wenn er dann Sätze sagte wie: »Ich verstehe die Interaktionsmuster nicht«, lief es mir eiskalt über den Rücken.
    Einer seiner Lehrer hatte den Verdacht sogar einmal formuliert, eher

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