Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
Jonathan es nicht mit. Auch nicht gut für ihn, der eigenen Mutter zuzusehen, wie sie ihr Leben verschläft, dachte ich. Aber irgendwann würde es mit der Müdigkeit gut sein. Dann musste ich sehen, was ich mit meinen normalen Tagen anfangen würde. Mehr arbeiten, klar. Trotzdem würde ich eine komplett neue Identität brauchen, wenn ich nicht mehr müde war. Im Moment jedenfalls hatte ich noch Schlafstörungen. Was Jonathan nichts anging. Ich nahm einfach Simons früheres Schlafmittel, das bei ihm nicht wirkte. Insgesamt war ich nach dieser einen, ruhigeren Woche fitter als seit langem.
»Ich bin noch längst nicht kaputt«, sagte ich.
»Aber weiÃt du, wie lange du ihn noch haben wirst?«, fragte er zurück. »Dein Leben lang vielleicht?« Das wies ich zurück, aber leise, damit Simon es nicht hörte. Er soll sich nicht mit zehn Gedanken darüber machen, dass er mal in einem Heim leben wird. Dafür ist die Zeit, wenn er selber sich wünscht, sich von mir abzunabeln. »Wie sehen die Alternativen aus?«, fragte ich stattdessen. Auch keine so gute Idee.
Also versuchte ich ihm zu erklären, dass die Chancen dazu, glücklich zu werden, in allen Leben gleich verteilt wären, egal, wie sie aussähen. Das war etwas, was David mal gesagt hatte; ich hatte ihm nicht geglaubt. Ich glaube auch nach wie vor nicht, dass dieser Satz für Simon gilt. Weil er sich nicht ausdrücken, seine soziale Natur nicht ausleben kann. Aus tausend Gründen. Aber für mich gilt es, denke ich.
Natürlich sprach ich »für die Galerie«, für meine Söhne, gegen meine eigene Angst. Trotzdem glaubte ich mir. Dumm nur, dass ich weinte. Ich sagte, dass es keine Rolle spiele, ob ich Party mache auf Barbados oder in Spardorf einen Autisten betreue. Wichtig sei meine innere Einstellung dazu, meine Fähigkeit, mein Schicksal anzunehmen und das Beste daraus zu machen, ich selbst zu sein, lieben zu können. Sich selbst eine Welt zu sein.
Ich erzählte ihm, wie ich manchmal vor einer Sache saÃ, einer Trockenmauer, einem Wiesenrand oder einem Felsbrocken, und mich bemühte, sie ganz genau zu betrachten. Erst sieht man ein paar Dinge, dann schaut man genauer hin und entdeckt ein paar mehr, die man vorher nicht bemerkt hat. Dann sieht man die ersten Tierchen, so klein, dass sie zuvor nicht auffallen. Man erkennt RegelmäÃigkeit und Sinn in ihren Bewegungen. Man sieht Texturen im Stein, Farben, Schattierungen, ein kleines Glitzern. Man entdeckt eine ganze Welt. Und dabei spielt ihre GröÃe keine Rolle. Manchmal ist mir dann, als könnte ich in diese Welt eintauchen und sie den Horizont meines ganzen restlichen Lebens ausmachen. Sie wäre nicht zu klein.
Jonathan schaute mich an, als wäre ich irre. »Seit du Buddhismus machst, bist du unerträglich«, sagte er.
Ein Sechzehnjähriger, genervt von seiner Mutter, das war doch andererseits ein schönes Stück Normalität; ich war fast stolz auf mich.
Ich widersprach nicht, obwohl das speziell jetzt gerade mit Buddhismus nichts zu tun hatte. Obwohl ich zugebe, dass ich derzeit zu meditieren versuche, über Taoismus lese und über die Begriffe Gelassenheit und Achtsamkeit nachdenke. Auch darüber, die eigene Mitte zu finden. Ach ja, eine Mitte, das wäre was.
Ich fuhr fort â und ich merkte schon, dass ich ein wenig zu viel redete â, dass es auch viele schöne Dinge in meinem Leben gebe. Dass ich mich geliebt fühle, viel geliebt sogar â worauf er einwarf, das sei ich. Siehste. Und ich sei dankbar, ein Talent zu haben, das Schreiben, und es zu meinem Beruf machen zu dürfen. Und für dies, und für jenes. Ich kam mir ziemlich schlau vor. Und auch ziemlich toll. Und ich glaubte mir jedes Wort. Jonathan offenbar nicht.
Er schaute mich wieder an und meinte, ich müsse wohl zu immer abstruseren Theorien greifen, um mir einzureden, mein Leben sei lebenswert.
Immerhin war Simon da eingeschlafen. Also griff ich zu einem Radler und ging FuÃball gucken. Es lebe die Weltmeisterschaft.
Ich bin ein Halt und doch kein Halt. Ich bin ein Ãrgernis, weil ich Simon nicht loslasse, ich zerstöre Jonathans Leben, weil ich seinen Bruder meines zerstören lasse. Ich bin ein Sorgenkind, statt eine Stütze zu sein. Er liebt mich, er hasst mich aber auch in manchen Momenten. Weil ich ihm zu viel zugemutet habe, das schreit er mir eines Tages entgegen. Weil ich ihn
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