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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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groß wahrnahm, die Tapete hinter seinem Rücken in Streifen von der Wand.
    Der Psychiater, angstvoll befragt, ob wir es hier mit einem psychotischen Schub, Schizophrenie oder irgendeiner anderen Art Geisteskrankheit zu tun hatten oder – wie die Schulpsychologin fürchtete – aufgrund der rapiden Verschlechterung im Allgemeinzustand mit einem Tumor, winkte nur ab: Simons Verhalten sei rein reaktiv, d. h., er reagiere eben auf die Veränderung seiner Situation. Das werde schon wieder. Wir fragten uns: Wann? Wie? Und vor allem: Was würde bis dahin aus uns werden? Wie sollten wir den jeweils nächsten Tag überstehen? Irgendwie schien das keinen zu interessieren. Also machten wir weiter. Hangelten uns von einer Stunde zur nächsten, von einer schlaflosen Nacht zur nächsten. Wir schliefen in Schichten und bissen die Zähne zusammen, um uns gegenseitig unsere Hilflosigkeit zu ersparen. Innerlich waren wir zum Zerreißen gespannt. Ich dachte, wenn mein Mann noch einmal sagt, dass man nichts tun kann, dann erschlage ich ihn. Auch wenn er recht hat. Ich klammerte mich weiter an den Imperativ, dass man etwas tun muss.
    Während der zwei Stunden am Vormittag, die Simon in dieser Schule verbrachte, der wir das ganz Inferno ja erst verdankten, die mir aber die einzige Chance zum Aufatmen bot, organisierte ich Buchspenden, stellte mich für Elternvertretungen zur Wahl, redete mit dem Rektor, warb um Verständnis und versuchte, auch zu geben, nicht nur zu nehmen. Ich wollte immer noch überzeugen, reformieren, gnädig stimmen, erklären, damit sie besser mit Simon umgingen. Aber niemand schien wirklich interessiert, alles ging seinen gewohnten Gang.
    Die Diagnose kam dann fast schon nebenbei, gestützt auf das inzwischen reiche Repertoire an Auffälligkeiten und Testergebnissen – Simon hatte im Rahmen der Einschulungsproblematik allein drei Intelligenztests mitmachen müssen. Dr. Wilkes, der zwei Jahre zuvor noch gesagt hatte, wir sprächen nicht über Autismus, attestierte unserem Kind nun atypischen Autismus und eine Angststörung. Es hätte einen Zeitpunkt gegeben, da wären wir bei der Nennung des Wortes zusammengebrochen. Jetzt nahmen wir es vor dem Hintergrund des Infernos, in dem wir lebten, nur unter ferner liefen wahr. Denn es war längst nicht mehr so, dass noch irgendetwas in uns hätte kaputtgehen können. Für mich war dieses Wort ein Halt, eine Art Schutzschild: Ich war nicht schuld, wie die Lehrerin dachte, ich hatte mein Kind nicht durch falsche Erziehung verdorben. Simon war Autist, damit hatte er Rechte, er war nicht mehr nur ein namenloses Ärgernis, es gab Hilfen für ihn. Ja, ich glaube, ich habe diese Diagnose umarmt – und sie der Welt entgegengeschrien.
    Wir bekamen die Adresse der Autismus-Ambulanz, einer speziellen Therapieeinrichtung. Von der Sorte gab es damals nur zwei in ganz Bayern, eine natürlich in München und eine in Nürnberg, also ganz in der Nähe. Glück gehabt; Simon ließ sich ja nicht an fremde Orte transportieren. Eine Fahrt nach München wäre ein Ding der Unmöglichkeit gewesen. Was hätten die dort diagnostizieren oder gar therapieren sollen? Entweder ein völlig hysterisches Etwas oder einen sedierten Zombie, beide nicht auswertbar zu beobachten.
    Die Finanzierung für die Therapie musste beim Jugendamt beantragt werden. Wir bekamen eine Stunde pro Woche. Da hatte ich schon gelesen, dass in den USA soziale Trainingsprogramme für Autisten aufgelegt wurden, die 25 Wochenstunden umfassten. Trotzdem: Glück gehabt.
    Bei unserem ersten Besuch dort – Simon schrie bloß, antwortete auf keine Frage, schlug nach uns und strebte energisch fort – haben wir, glaube ich, allen gründlich Angst eingejagt. Gefreut haben sie sich auf Simon erst einmal nicht. Er wirkte schon wie eine verdammt große Herausforderung. Frau Kohler, seine später mehrere Jahre mit ihm arbeitende Therapeutin, hat mir gestanden, dass sie nach jener ersten Begegnung große Sorge hatte, wie das mit Simon werden würde.
    Als wir die Einrichtung verließen, kam ein klarer Satz heraus zwischen all seinem Gebrabbel, dem Schreien und dem Fragen, wann es Tag sei und wann Nacht, wann die Sonne aufgehe etc., all diesen Fragen, von denen ich heute weiß, dass er sie stellte, weil ihm jede Orientierung verloren gegangen war durch den unglaublichen Stress, unter dem er stand. Es war einer jener

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