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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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nämlich verbunden mit meiner Zuwendung und Liebe, weil er hoffte, es würde dann wieder angenehm werden und man würde sich ihm zuwenden und ihn lieben. Simon verfuhr so wie alle Autisten – aber von Autismus sprachen wir damals ja noch nicht: Sie lernen Sätze und wiederholen sie, wenn es ihnen geeignet erscheint. So verabschiedete Simon sich eine ganze Weile in jeder Situation mit den Worten: »Tschüs, David und danke für den guten Kuchen.« Weil er eben einmal mitbekommen hatte, dass ich mich so verabschiedet hatte, und nicht begriff, dass es für die Anwendung dieses speziellen Satzes eines Davids und eines Kuchens bedurfte. Er war wie jemand, der Brot mit der Schere schnitt, weil Scheren eben schneiden. Übrigens etwas, was Autisten jederzeit tun würden.
    Nachdem die Lehrerin mich aus dem Klassenzimmer hinauskomplimentiert und Simon eingesperrt hatte, saß ich im Flur der Schule und hörte mein Kind hinter der verschlossenen Tür leiden, einer Tür, die ich am liebsten eingetreten hätte. Ich heulte wie ein Schlosshund. Noch heute bereue ich zutiefst, es nicht getan zu haben, nicht auf mein Bauchgefühl gehört und Simon da sofort rausgeholt zu haben. Aber das Bauchgefühl war ja so demoliert worden während der letzten Jahre der Ratlosigkeit. Vielleicht hatte die Lehrerin ja recht, vielleicht hatte ich wirklich nicht gewusst, wie man mit diesem Kind richtig umgeht, vielleicht war unser Leben, war Simon so schwierig, weil ich wirklich so ein übler, schwacher Mensch war, mit der Erziehung überfordert.
    Die ersten Wochen in der Förderschule machten alles nur noch schlimmer. Simon schlief fast gar nicht mehr, mitten in der Nacht stand er auf, ging im Kreis herum, ohne sich unterbrechen zu lassen, weder durch Worte noch durch Zwang. Nichts, was man sagte oder tat, drang zu ihm durch. Wie ein Tier im Käfig lief er umher, stoisch, unaufhaltsam. Und er fragte permanent: »Wann wird es Tag? Wann wird es Tag?« Er zuckte und bebte, seine Pupillen waren geweitet, er schien nicht mehr er selbst.
    Wir saßen vor ihm und starrten ihn aus vor Müdigkeit tränenden Augen an, aufgewühlt vor Kummer, hilflos. »Man kann nichts machen!«, rief mein Mann immer wieder. »Man kann nichts machen.« Manchmal ging er. Es ist sehr schwer, das Elend zu sehen, ohne helfen zu können. Nach einer Weile teilten wir uns ein: Einer sah Simon beim Herumlaufen zu, der andere ging einen Stock tiefer ins Büro und schlief. Soweit das Geschrei das zuließ. Wenigstens eine Weile.
    Tagsüber dasselbe Bild. Nichts, was wir taten oder sagten, erreichte Simon. Er machte sich aus Umarmungen los. Er riss sich aus Haltegriffen. Er ließ sich durch nichts ablenken, keine Befehle, keine Angebote. Er konnte nichts anderes mehr tun, als Achterschleifen zu gehen, mit den Händen zu wedeln, vor sich hin zu brabbeln in einem sich steigernden Rhythmus. Bis der nächste Schrei aus ihm herausbrach. Der nächste und wieder der nächste, ein endloses Delirium, dem man nichts entgegenzusetzen hatte.
    Unser Alltag war atomisiert worden. Wie ein Roboter lief ich herum und funktionierte, ich weiß nicht, wie. Simon aß nicht mehr am Stück, er beschäftigte sich mit nichts. Er brachte es nicht mehr fertig, aus dem Haus zu gehen. Es war ein Ringkampf, ihn anzuziehen, um ihn zur Ergotherapie zu zerren, den einzigen Ort, an den wir noch gehen konnten. Dort wehrte er sich weiter, sanft und beharrlich, genötigt von seinem Therapeuten. Herr Neumeier, der Mann mit der sanften Stimme, der uns gesagt hatte, dass nichts wieder gut werden würde, war der Einzige, der es noch auf sich nahm, sich mit Simon zu befassen. Er allein blieb ruhig und fest und zwang Simon halb, halb tröstete er ihn, während er mit ihm das Therapieprogramm durchzog. Trotzdem hörte ich mein Kind die meiste Zeit durch die beiden geschlossenen Türen bis ins Wartezimmer schreien. Ich lief die ganze Stunde auf und ab wie ein Tiger im Käfig. Wenn ich nicht gewusst hätte, dass Simon in guten Händen war, ich hätte es nicht ertragen.
    Einmal, Herr Neumeier war krank, holte eine Kollegin Simon ab und nahm ihn mit, eine mehr als mutige Entscheidung, die mich sehr beunruhigte. Sie holte mich auch prompt bald dazu, weil Simon gar nichts tun wollte. Er stand nur in der Zimmerecke, mit dem Rücken zur Wand, völlig verweint, aufgewühlt, zitternd. Seine Hände pulten, ohne dass er es

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