Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
kaum aus dem Haus schaffe und nicht einmal bislang vertraute Orte ertrage. Eine Woche später kam aus Ansbach der Bescheid, sich mit einem Gutachten nach Aktenlage begnügen zu wollen. Ich sammelte für diese Akten Gutachten von allen Ãrzten und Therapeuten, die je mit Simon zu tun gehabt hatten.
Ich stürzte mich mit aller Kraft auf dieses Projekt, dass ich kaum noch den Alltag bewältigte. Meine Mutter war inzwischen schon dazu übergegangen, mir Essen mitzubringen, das sie vor der Tür abstellte. Sie klingelte und ging, ehe ich öffnete, da alle Besucher, selbst lebenslang vertraute, Simon in die Hysterie trieben. Für einen Gang über die StraÃe vom Auto zum Arzt nahmen sein Vater und ich Simon beide an der Hand und skandierten zu unseren Schritten ein vertrautes Lied, um ihn dazu zu bewegen, die hundert Meter zurückzulegen. Trotzdem mussten wir beruhigen und loben und beschwichtigen und reden, reden, reden. Jeder kreuzende Hund, jeder knallende Auspuff, jeder Mensch, der plötzlich aus einer Tür trat, konnte alles verderben. Wir waren schweiÃgebadet. Wir gingen gerade unter. Wir brauchten diese Schulbegleitung.
Meine Buchhändlerin wies mich schlieÃlich auf eine Dame hin, die früher eine Kindergruppe geleitet hatte und jetzt eine Aufgabe suchte, die sie ausfüllte. Frau Kaarmann kam zum Tee, um Simon anzusehen. Sie war völlig überqualifiziert: ausgebildete Erzieherin, Montessori-Assistant-Teacher-Zusatzausbildung, langjährige Berufserfahrung, auch mit behinderten Kindern, in leitender Funktion. Sie war warmherzig, klar, strukturiert, findig, entschlossen und voller Lebensfreude und Energie. Sie war perfekt.
Eine Aufgabe waren wir, kein Zweifel, eine Lebensaufgabe sogar. Aber waren wir ihre Aufgabe? Würde sie uns, würde sie Simon tatsächlich mögen?
Ich zitterte innerlich und backte prompt herzlich schlechte Kekse. Da saÃen wir drei dann vor den halbverbrannten Dingern, Simon unbeteiligt, ich völlig zerstört, wir waren inzwischen, glaube ich, beide recht seltsam, Frau Kaarmann aufmerksam und ruhig. Vielleicht hat die Szenerie ihr Mitleid geweckt. Auf jeden Fall war es, was sie und meinen Sohn anging, Sympathie auf den ersten Blick. Sie sagte zu und stürzte sich mit uns in das bürokratische, pädagogische und psychische Abenteuer. Ich kann ihr nicht genug dafür danken.
Es ist bis heute unser Riesen-, Riesenglück, dass sie sich auf dieses Abenteuer eingelassen hat. Sie gibt Simon den Halt und die Stabilität, die er braucht. Sie hat die Entschlossenheit, ihn weiterzubringen, auch da, wo er selbst gar nicht will. Sie hat ihn angenommen, und ich wünschte von Herzen, wir könnten ihr mehr dafür zahlen als das magere Gehalt, das die Ãmter für diesen Job vorsehen. Ich möchte nicht einen dieser Bewilliger und Entscheider einen Vormittag lang mit Simon in der Schule erleben, bei der »Hilfsarbeit« mit ihm, wie sich das definiert!
Dieser Kampf begleitet uns jedes Jahr von neuem. Erst mit dem Jugendamt, dann mit dem Bezirk, immer geht es um die Frage, ob Simon eine Fach- oder Hilfskraft an seiner Seite benötigt. Ob wir Frau Kaarmann also einen Hungerlohn zahlen dürfen oder nur eine unverschämt geringe Summe, von der keiner leben kann. Für die sie aber ihre ganze Kraft, ihre Nerven, ihre pädagogische Findigkeit und ihr Herz geben muss und aufs äuÃerste gefordert ist. Mich packen jedes Mal Angst und Wut, wenn ich wieder einmal meinen »formlosen Antrag« auf einen Integrationshelfer stelle, weil ich schon weiÃ, ich werde einen Bescheid erhalten, gegen den ich Widerspruch einlegten werde, das Ganze wird sich hinziehen, begleitet von der Panik, dass Simon im September erst mal ohne alles dasteht. Was soll aus ihm werden, wenn Frau Kaarmann das Handtuch wirft, ausgelaugt, unterbezahlt, von Amts wegen nicht wertgeschätzt? Was soll Simon mit irgendeinem Heilpädagogik-Studenten, der keine Ahnung von Autismus hat? Jedes Jahr wieder schiebe ich diese Ãngste beiseite, sage mir, es ist nur ein Spiel, ein bürokratischer Tanz, den ich mittanzen muss, ganz so, als ginge es nicht um unser Leben. Bisher habe ich noch jedes Mal gewonnen. Aber ich hasse es, hasse meine Angst und die Demütigung.
Bis alles überhaupt so weit war, wurde unsere Geduld auf eine harte Probe gestellt. Es waren locker acht Wochen ins Land gegangen, während der wir keine Nacht schliefen und Simon vor
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