Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
unseren Augen zerbröselte. Das war die maximale Bearbeitungszeit, die der Bezirk sich erlauben durfte, ehe er sich dann auch bei uns meldete. Um uns mitzuteilen, dass für Simon aufgrund der Spezifik seiner Behinderung leider das Jugendamt zuständig sei! Dort hätten wir den Antrag erneut zu stellen. Alles auf null. Ich war fassungslos!
Wütend wurden wir beim Jugendamt vorstellig, mit dem Kind unterm Arm, und unternahmen nichts dagegen, dass er beim ersten Gespräch im Besucherzimmer mal wieder so richtig ausrastete. Sollten die doch mal sehen, was bei uns los war. Offensichtlich verbreiteten sowohl er als auch wir so viel Stress im Amt, dass sie ihre Eingangsposition â »Acht Wochen wird das schon dauern, das ist schlieÃlich ein amtlicher Vorgang« â ziemlich schnell aufgaben. Wir schafften es am Ende, binnen zwei Wochen durch die Bewilligungsinstanzen zu marschieren. Innerlich musste ich fast triumphierend grinsen. Aber nur fast. Damals war mir wirklich nicht nach Lachen zumute. Denn beim Jugendamt, so wurde uns mitgeteilt, suchte das Amt die Betreuungsperson aus, nicht die Eltern. Noch mal auf null und Frau Kaarmann wurde auf einmal vom Glücksfall zum Hindernis. Was, wenn man sie beim Amt ablehnte? Sie musste ihre Zeugnisse zusammensuchen, sich ein polizeiliches Führungszeugnis besorgen und vorstellig werden. Zu unserer Erleichterung war man beim Amt so begeistert von ihr, dass man prompt versuchte, sie uns abzuwerben.
Es war Januar, als Frau Kaarmann Simon endlich in seine Horrorschule begleiten durfte. Er ging dort schon eine Weile nur zwei, maximal drei Stunden pro Tag hin, den Rest der Zeit hatte ich ihn zu Hause. Wir blieben auch erst einmal bei den kurzen Aufenthalten, genauso wie die Lehrerin an der Sache mit der kleinen Kammer festhielt. Frau Kaarmann wurde kurzerhand mit hineingesperrt, der Schlüssel umgedreht. Kein Witz. Die beiden dürften erst in den Klassenraum zurückkommen, hieà es, wenn Simon zur Räson gebracht sei. Ansonsten sollten sie sich still verhalten.
Da saà Frau Kaarmann nun in dem kleinen Betonkabuff mit einem Kind, das im Kreis lief und schrie. Ich habe sie für dieses Buch gefragt, was sie damals getan hat. Sie meinte, es sei als Allererstes darum gegangen, ihm die Sicherheit zu vermitteln, dass jemand für ihn da war. »Ja, und was haben Sie mit ihm gemacht?« â »Wir haben begonnen zu singen. Ich habe ihm viele Lieder beigebracht.«
Eines der ersten, es ist wohl als Warmsinglied in Chören recht bekannt, beginnt so: »Singen macht SpaÃ, Singen tut gut, Singen macht munter und Singen macht Mut. Singen macht froh und Singen hat Charme, die Töne nehmen uns in den Arm.«
Für Simon war jedes Wort dieses Textes auf existentielle Weise wahr.
Ich war so dankbar. Noch immer aufgewühlt, noch immer wütend, aber dankbar. Simon hatte einen Schutzengel, jemand, der ihn liebte und verstand an seiner Seite, jemand, der Ideen hatte, die mir schon gar nicht mehr kamen, jemand, der diese Ideen umsetzte. Ich machte Frau Kaarmann bei jeder Gelegenheit kleine Geschenke und wusste doch nicht, wie ich das alles jemals wiedergutmachen konnte.
Frau Kaarmann und ich besuchten gemeinsam ein Fortbildungsseminar für Fachpersonal aller Art, das mit Autisten zu tun hatte, ob in Tagesstätten, Schulen oder Kindergärten. Auf die Veranstaltung war ich durch das Kompetenz-Zentrum aufmerksam gemacht worden. Die meisten der Teilnehmer waren Erzieher, eine weitere Schulbegleiterin wollte sich hier auf ihren neuen Job vorbereiten; ich war die einzige Privatperson. Frau Wolf, die damalige Leiterin der Tagesstätte für erwachsene Menschen mit Autismus in Nürnberg, deren Arbeit ich schon zuvor auf einem Symposium kennengelernt hatte, leitete die Wochenendveranstaltung mit Verve und Begeisterung. Sie sprach viel von Struktur: Strukturieren Sie Ihren Autisten, oder er wird Sie strukturieren. In Erinnerung ist mir ihre Erzählung von einem ihrer Tagesstättenpfleglinge, der gerne zwickte. Das Mädchen kniff Besucher immer wieder fest in die Hand â aber nur diejenigen, die auf einem bestimmten Sofa Platz genommen hatten. Sie lieà sich neben den Ahnungslosen nieder und deutete das Zwicken zunächst mit der Hand in der Luft an. Frau Wolf erzählte, dass sie alle Bewerber für eine Praktikanten- oder sonstige Stelle gerne zum Warten auf dieses Sofa schickte. Kamen sie dann zum Bewerbungsgespräch in
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