Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
authentischen Sätze, die er manchmal irgendwie aus dem Chaos seines Inneren hervorbrachte, einer der Sätze, die aus seinem Zentrum kamen und ganz und gar von ihm waren. Der Satz lautete: »Was macht ihr denn mit mir?« Da wurde mir bewusst, dass er ein denkender, fühlender Mensch war, der unendlich litt. Was machte ich eigentlich mit ihm? Warum machte ich es nicht besser? Warum schützte ich ihn nicht? Ich schämte mich, ihn so zu quälen. Ich hätte so gerne das Gespräch fortgesetzt, mich entschuldigt, ihn getröstet, ihn gefragt, was er will und braucht. Aber Simon war nur diesen einen Satz lang da. Dann war ich wieder allein.
Mit der Diagnose Autismus traten wir voll neuer Hoffnung an die Schule heran. Aber die Mühlen mahlten so langsam. Und Simon verzweifelte jeden Tag, jede Nacht, jede Stunde mehr. Ob Autismus oder nicht, die Diagnose war der Schule letztlich gleichgültig, sie wusste nichts darüber und plante nicht, ihr Wissen in dieser Hinsicht zu erweitern. Wir boten der Lehrerin eine Fortbildung über Autismus an, die sie ablehnte. Stattdessen empfahl sie Simon Ausgleichssport, damit er sich abreagieren könne. Noch immer hielt sie ihn für aggressiv, hatte keinen Blick für seine Verzweiflung. Einmal mehr redete ich mit der Schulleitung, mit dem Beratungslehrer. Ich bat, ich erklärte. Nichts. Simon gehörte hier nicht hin, das war deutlich. Ob er nun Autismus hatte oder nicht, war denen im Endeffekt wurst. Sie wollten sich mit diesem Kind nicht auseinandersetzen. Wo ich aber sonst mit ihm hinsollte, darüber schwiegen sich alle aus, kein Vorschlag kam, keine Idee. Am liebsten wäre es ihnen gewesen, dieses Kind und die hysterische Mutter dazu würden sich in Luft auflösen.
Ich beantragte einen Schulbegleiter, eine Person, die Simon im Unterricht beistehen sollte, ihm bei Aufgaben assistieren, die Anweisungen der Lehrerin für ihn verständlich übermitteln, seine ungeschickte Feinmotorik ausgleichen, ihn beruhigen und ihn in unstrukturierten Momenten wie Pausen begleiten sollte. Die, kurz gesagt, all das dauerhaft tun sollte, was ich begrenzt an diesem einen Vormittag versucht hatte. Die ihn vor der Schule und der Umwelt schützen und beide Bereiche dann vorsichtig aufeinander zu führen sollte. Autisten, die ihre Diagnose schwarz auf weià erhalten, haben ein gesetzliches Anrecht auf so eine Person. Zumindest theoretisch. Es war ein neuer Kampf, eine neue Chance. Oder am Ende doch nur der nächste Strohhalm, an den ich mich klammerte?
Jedenfalls war ich froh, etwas tun zu können, wollte diese Schulbegleitung mit aller Verbissenheit, jetzt und sofort. Ich setzte geharnischte Briefe auf, mein Mann telefonierte hinterher, wenn nichts geschah, was meist der Fall war. Wir sind beide keine Kämpfernaturen, sind es nie gewesen, es kostete uns unendliche Kraft, die eigentlich gar nicht mehr da war. Aber in mir war so eine Wut. Ich marschiere, dachte ich, ich marschiere, wenn es sein muss, bis ich umfalle. Wir, die wir immer nur in einem Familienidyll hatten leben wollen, befanden uns im Krieg.
Wir warteten auf eine Reaktion des Bezirks, der eine solche Begleitung bewilligen und finanzieren musste. Nichts kam. Nach vielen Telefonaten fanden wir heraus, dass der Antrag zwischen zwei Büros hängengeblieben war, informierten die betroffenen Stellen darüber und machten Druck. Wir fanden die folgende Woche weiterhin heraus, dass jetzt die Stellungnahme der Amtsärztin fehlte. Ich rief die Amtsärztin an, die zugab, den Antrag vor sich hergeschoben zu haben, da sie nicht recht gewusst habe, was sie eintragen solle. Es sei ja ein recht seltener Fall. Ich diktierte ihr, was das Kompetenz-Zentrum mir diktiert hatte, und beschwor sie, alles rasch an die Ãmter zurückzuleiten.
Währenddessen suchte ich schon einmal nach einer geeigneten Person für die Rolle der Schulbegleitung, da der Bezirk, unsere Antragsstelle, sagte, jemand Konkreten zu finden sei unsere Sache. Wo bekommt man Schulbegleiter her? Ich rief soziale Vereine und Organisationen an, ich erzählte Hinz und Kunz, dass ich jemanden suchte, der mein behindertes Kind begleiten könne. Nebenbei machte ich weiter Druck beim Bezirk, wo noch ein Professor der Psychiatrie Ansbach Simon begutachten sollte. Ich telefonierte mit dem Büro des Professors, machte ihm klar, in welchem Zustand Simon war, was für eine Tortur so ein Besuch derzeit für ihn sei, da er es
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