Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können
sein könnte, beiseite.
»Seid ihr verrückt?«, fragte auch Seppa Barner, seine Reittherapeutin, deren Stunden wir neuerdings besuchten, was Simon sichtlich genoss. Er brauchte zwar lange, bis er sich auf das Pferd hinauftraute, aber einmal oben, sang er fröhlich vor sich hin bei den Ausritten, zählte hernach brav, laut und korrekt die Zahl der Futterkellen, die sein Tier bekommen sollte, und sagte auch, welche Farbe er sich für sein eigenes Belohnungsgummibärchen wünschte. Er hatte Seppa sofort ins Herz geschlossen, was auf Gegenseitigkeit beruhte, und auf dem Bild, das er ihr malte, fehlte vom Sattelzeug des Pferdes kein Detail.
Seppa war bass erstaunt, dass wir an einen Sonderschulweg dachten. Simon spreche mit ihr fast normal, er kenne die Farben, die Zahlen und sei insgesamt aufgeschlossen. »Der gehört doch in keine besondere Schule.« Was seinen IQ betraf, mochte das sogar stimmen. Was sie nicht wusste: Dass er sonst mit fast niemandem so sprach wie mit ihr. Was sie noch nicht wusste: Dass er nur wenige Wochen später über irgendetwas auf ihrem Hof, der bis dahin das pure Idyll für uns gewesen war, so sehr erschrecken sollte, dass er über ein Jahr keinen Fuà mehr dorthin setzte.
Simon meinte nur, er habe »Angst vor dem Schmied«. Was es tatsächlich gewesen war, konnten wir nie ermitteln. Sicher lässt sich nur sagen: Es war die Zeit seiner Einschulung. Plötzlich wollte er nicht mehr zum Reiten, stieg auf kein Pferd mehr, verlangte panisch nach Hause, zitterte, schrie, hatte riesige Pupillen, war sichtlich nicht mehr Herr seiner Emotionen. Die ganze so erfolgreich begonnene Therapie, die vertraute Beziehung zu seiner Reitlehrerin, die sich wirklich bemerkenswert angelassen hatte: All das zählte nicht mehr. Er war so nervös, so angstgeschüttelt, so völlig unzugänglich auf einen Schlag für jeden Trost und jede beruhigende Geste, dass wir am Ende aufgaben. Seppa war erschüttert.
Zwei Jahre später, als wir es geschafft hatten, Simons Angst zu überwinden und ihn wieder bei ihr »anzusiedeln«, meinte sie, damals überhaupt nicht begriffen zu haben, wovon ich sprach, wenn ich Simon »anders« nannte. Bis zu jenem Tag.
Aber was für eine Form von Problem war das?
Wir sprachen also mit Hinz und Kunz, die auch gerne ihren Rat gaben, wir erwogen und rätselten. Nirgendwo tat sich ein Weg auf, der zu passen schien. Nach allem, was wir heute wissen, entschieden wir uns falsch. Nämlich für die Förderschule.
Vielleicht hätte alles dennoch einen guten Weg nehmen können, wenn seine Lehrerin nicht so ein unsensibler Dragoner gewesen wäre. Wenn sie ein wenig Interesse für Simon und etwas Empathie aufgebracht hätte. Aber für sie stand schnell fest: Der ist nicht schulreif. Denn er ist nicht still, er bleibt nicht sitzen, und er hört nicht auf das, was ich sage. Punkt. Da er es nicht tut, muss er verzogen sein von einer unfähigen Mutter, die sich nicht durchsetzen kann. Nochmals Punkt. Von dieser Position bewegte sie sich keinen Zentimeter weg.
Klar, Simon war in der neuen Umgebung aufgeregt ohne Ende. Er lief im Kreis herum und wedelte mit den Händen. Alles war so laut und durcheinander. Also schaffte er sich seine eigene Welt, indem er sich in einen vertrauten Klang einhüllte: Er sang. Falls er begriff, dass das die anderen störte, konnte er doch nichts daran ändern in seiner Erregtheit. Er verstand auch gar nicht, dass die LautäuÃerungen der Person da vorne, weit weg am Pult, wichtig waren und sich auf ihn bezogen. Also reagierte er nicht.
Ich versuchte, der Dame zu erklären, dass wir es mit einer Angstreaktion zu tun hatten. Sie erlaubte mir, einen Vormittag mit im Zimmer zu sein und neben ihm zu sitzen. »Dann muss er ja gleich ruhig sein, wenn es wirklich Angst ist, wie Sie sagen.« Sie machte keinen Hehl daraus, dass sie mir nicht glaubte. Da ich schon wusste, dass sich Simon, wenn er erst einmal in Panik geraten war, so schnell nicht beruhigte, lastete ein enormer Druck auf mir. Ich sollte ihn an nur einem Vormittag still und ausgeglichen bekommen, was unmöglich war. Ich hätte eine Woche, zwei oder drei gebraucht, um ihn schrittweise an diese neue Erfahrung des Schulalltags heranzuführen. Aber ich bekam nicht eine einzige, nur einen mickrigen Vormittag.
Die vorwurfsvollen Blicke vom Pult signalisierten mir unmissverständlich: Er ist ja immer noch
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