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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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das Büro, sah sie sofort am schmerzverzerrten Gesicht und dem deutlichen Mal auf dem Handrücken, ob sie gezwickt worden waren oder sich erfolgreich zur Wehr gesetzt hatten. Ein einfaches »Nein«, ein »Lass das« oder »Ich will das nicht« half nämlich. Sie erzählte, sie nehme bevorzugt die Bewerber, die es geschafft hätten, das unerwünschte Verhalten zu unterbinden. Die anderen, vor allem, wenn sie das Gezwicktwerden noch zu entschuldigen suchten – »Sie hat halt auf ihre Art Kontakt aufnehmen wollen« –, wurden von Frau Wolf belehrt. Zwicken sei Zwicken und indiskutabel, auch als Kontaktaufnahme. Man müsse klare Grenzen setzen, wenn man nicht sein Leben lang zur Begrüßung gezwickt werden und mit roten Händen herumlaufen wolle. »Im Übrigen«, klärte sie uns auf und grinste, »wollte die junge Frau keinesfalls Kontakt aufnehmen. Sie betrachtete das Sofa schlicht als ihr Eigentum und wollte, dass man davon verschwand.«
    Das war die zweite Lehre, die Frau Wolf uns vermittelte: Nicht voreilig interpretieren, warum ein Autist etwas tut und was er damit bezwecken will, um dann auf der Basis dieser Annahme zu handeln. Das führe meist ins Leere und zu gegenseitiger Frustration. Immer sollte man einen Weg suchen, die Absichten, Motive und Wünsche wirklich zu klären, bevor man Schlüsse zog, Entschuldigungen fand, falsche Angebote machte und den Autisten nur nervte. Die junge Frau wollte ja auch kein Verständnis für ihre Zwickerei; sie wollte, dass man sich schleunig verzog.
    Frau Wolfs enormes Wissen, ihre Begeisterung für Autismus und ihre mitreißende Art waren eine große Hilfe für mich. Fast freute man sich nach einem Tag mit ihr, dass man zu Hause so einen interessanten Problemfall sitzen hatte. Ihr verdanke ich übrigens auch einen der bis heute erhellendsten Momente meiner Ausbildung zur »Autismus-Spezialistin«. Es war ein ganz simples Experiment: Sie teilte vier Bücher an vier Teilnehmer aus, wies sie an, sich in die vier Ecken des Zimmers zu stellen und laut eine bestimmte Seite vorzulesen. Wir anderen sollten nichts tun, als zuhören. Allen vieren gleichzeitig. »Ich möchte nachher von Ihnen wissen, was jeder der vier gelesen hat.«
    Anfangs mühten wir uns nach Kräften, aber natürlich war es unmöglich. Bestenfalls gelang es, sich auf den nächststehenden Vorleser zu konzentrieren und dessen Stimme aus dem Gewirr herauszulösen. Versuchte man, auch nur einem weiteren Vorleser zuzuhören, war es vorbei. Es dauerte nicht lange, und ich dachte, mir würde der Schädel vor lauter Anstrengung und Konzentration platzen. Es war laut, es war frustrierend, weil es einen so aussichtslos überforderte, und es schien nicht enden zu wollen. Wir atmeten alle auf, als Frau Wolf das Experiment beendete.
    Sie ahnen vielleicht schon, was unsere Kursleiterin uns damit hatte vorführen wollen: Es ging darum, dass Autisten die Eindrücke, die aus der Umwelt auf sie einstürmen, nicht wie normale Menschen automatisch vorfiltern. Wir sehen zum Beispiel einen U-Bahnsteig, das Schild mit dem Stationsnamen, wir hören, wenn eine U-Bahn im Anmarsch ist und nehmen die Schlange wahr, in die wir uns einreihen müssen, um einsteigen zu können. Aber wir registrieren nicht, mit wie vielen Kacheln die Tunnelwand beklebt ist, welche Farbe der Mantel des Menschen fünf Plätze vor uns in der Schlange hat, welche Temperatur gerade herrscht, wenn sie nicht ganz extrem ist, oder was für Nebengeräusche zu hören sind.
    Autisten können die Elemente, die in einer bestimmten Situation wichtig sind, nicht von den unwichtigen trennen, den Vordergrund nicht vom Hintergrund, das Große nicht vom Kleinen, die Details nicht von der Form. Sie sehen Tausende von Blättern, aber keinen Baum. Millionen Lichtreflexe, aber keine Landschaft. Sich kreuzende Linien und Winkel, ein spannendes Wechselspiel von Kurven und Geraden im Straßenbild, aber wo bitte geht’s zum Bahnhof? Sie erkennen nicht wie wir intuitiv die Muster, auf die sie reagieren müssen.
    So etwas kann man erklären. Aber wie fühlt es sich an?
    Â»Na«, fragte Frau Wolf uns, als es endlich wieder still war. »Wie war’s?«
    Alle seufzten. »Ach«, sagte die erste Erzieherin. »Ich hätte mir am liebsten die Ohren zugehalten.«
    Â»Ich hätte schreien können nach einer Weile«, sagte eine

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