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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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andere.
    Und eine dritte: »Am liebsten wäre ich rausgelaufen.«
    Â»Sehen Sie«, sagte Frau Wolf. »Damit hätten Sie schon drei der typischen autistischen Verhaltensweisen benannt.«
    Ein anderes Experiment, ein Rollenspiel, nutzten Frau Kaarmann und ich dazu, ihre derzeitige Situation mit Simon darzustellen. Ich lief im Kreis herum, sie versuchte vergeblich, mich aufzuhalten. Frau Wolf gab Ratschläge, spendete Trost und war am Ende des Seminars so interessiert an unserem Fall, dass sie zu einem Hausbesuch kam. Simon beobachtete sie aus den Augenwinkeln und wälzte sich kichernd auf dem Boden. Sie musste grinsen, weil sie merkte, dass er sie sehr wohl wahrnahm und neugierig war. Auch mich machte sie auf die Anzeichen dafür aufmerksam; sie wären mir sonst entgangen, indirekt, wie sie waren. Die schnellen Blicke von der Seite, die leichte, wie unabsichtliche Berührung ihrer Unterlagen mit der Hand, als er an ihr vorbeiging. »Er will wissen, was ich da habe«, sagte sie und erklärte es ihm. Er schaute derweil aus dem Fenster, mit dem Rücken zu uns, aber er war still. Sie war der erste Mensch, der Simon mit großer Selbstverständlichkeit als intelligentes Wesen ansprach. »Lernen ist cool, Simon«, sagte sie. »Da kommst du schon noch drauf.«
    Frau Kaarmann ging mit all dem frisch Gelernten, ihrer erzieherischen Erfahrung und einer großen Portion gesundem Menschenverstand an die Arbeit. Jeder Autist ist anders, jeder Tag hatte seine eigenen Tücken. Letztlich konnte sie sich nur auf ihre Beobachtungsgabe, ihre Sensibilität und ihren Einfallsreichtum verlassen. Zum Glück besaß sie von allem reichlich. Und Ausdauervermögen dazu. Wir stellten ein kleines Trampolin in Simons Schulkabuff, auf dem er sich zwischen zwei Aufgabenstellungen abreagieren durfte. Und wir legten einen kuscheligen Teppich auf den Boden, auf dem Simon herumliegen konnte, wenn er endlich einmal nicht im Kreis lief. Die Schule beäugte diese Maßnahmen misstrauisch. Die nisten sich dort ein, besagten die Blicke. Und: Was hat das alles mit Schule zu tun?
    Mich hat das alles unheimlich erleichtert, weil ich sah, dass es Simon half. In ganz kleinen Schritten zwar nur, aber wir tasteten uns langsam aus dem Inferno heraus. Ich unterstützte alles begeistert und schämte mich, dass ich nicht früher darauf gekommen war, dass ich nicht energischer dafür gekämpft hatte. Frau Kaarmann zog mein Kind Stück für Stück aus dem Sumpf, während ich dabeigestanden und zugesehen hatte, wie es hineingeraten war.
    Frau Kaarmann baute einen Turm aus Legosteinen, den sie auf den Tisch stellte. Für jede Viertelstunde gab es darin einen Stein. Sechs Steine, jeweils nach fünfzehn Minuten abgetragen, dann kam Mama. So bekam die Zeit eine Struktur, wurde für ihn im wahrsten Sinne des Wortes fassbar. Es dauerte, bis Simon sich darauf einließ, aber schließlich fasste er Vertrauen. Das Chaos, in dem er sich bewegte, in dem ihm Tag und Nacht, Sonnenaufgang und Sonnenuntergang abhandengekommen war, hatte eine Form bekommen.
    Als er ruhiger wurde, beklebte Frau Kaarmann die Legosteine mit Bildern: eins für die Pause, eins für das Schreiben, das Rechnen. Eins für das Nachhausegehen. Das war ihr Stundenplan. Nun gab es neben der zeitlichen auch eine inhaltliche Ordnung. Simon wusste, was ihn erwartete.
    Wir führten diese Lego-Uhr bald auch zu Hause ein, um den Nachmittag zu strukturieren. Außerdem fertigten wir ein Wandbild an mit möglichen Beschäftigungen, die Simon durch Deuten aussuchen konnte: Vorlesen, Trampolin, Einkaufen. Deuten ging besser als Sprechen.
    Frau Kaarmann verlangte und bekam einen Kalender nach Montessori-Art mit großen Holztafeln für Tage, Monate und Jahreszeiten. Sie machte laminierte Bildtafeln für Simon. Sie ordnete seine gesamte Welt. Bis er langsam, ganz langsam ruhiger wurde. Er hörte auf, im Kreis zu laufen. Er schrie nicht mehr. Er schaffte es minutenlang, die Finger aus der Hose zu lassen. Er hörte auf das, was sie sagte. Er führte den Stift, wenn sie seine Hand hielt und wagte sich nach Wochen an erste inhaltliche Aufgaben. Buchstaben entstanden, Zahlen. Mein Kind wurde wieder sichtbar. Ich durfte ihn sogar wieder anfassen, mit ihm knuddeln, ein wenig sprechen, an mich drücken. Ich war so erleichtert.
    Â»Meinen Sie denn«, fragte die Lehrerin, »dass er die nächste Schulaufgabe mitschreiben

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