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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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Pochen verklungen war, begannen sie reihum vorzulesen. Mit einem Mal hörte man die Stimmen dieser seltsamen Wesen dort oben, denen man nicht einen zusammenhängenden Gedanken zugetraut hätte, wenn man sie sah. Diese Stimmen waren verschieden. Einer äußerte nur kurze, schlichte Sätze, ein anderer komplizierte, längere Gedankengänge. Einer besaß so etwas wie Humor, einen Funken Ironie, der einen umso mehr fesselte, als sich in seinem Gesicht, das man unwillkürlich genauer zu studieren begann, einfach nichts davon zeigen wollte. Es spiegelte gar nichts, keine Unruhe, keine Zufriedenheit, keinen Stolz, keine geheime Befriedigung, nichts. Aber die Stimme war da.
    Es war eine Offenbarung.
    Die nächste Frage. Das schweigende Pochen. Die Lesung.
    Â»War in Ihrem Leben eine Einrichtung für Sie hilfreich?«
    Â»Leider nein.«
    Â»Es war lange schwierig, in der Schule kam ich nicht zurecht. Jetzt in der Tagesstätte werde ich verstanden, und das ist mir sehr wichtig.«
    Â»Meine Mutter war immer ein Halt für mich.«
    Ich hätte heulen können, ich fühlte mich wie nach einem Trance-Gottesdienst. Ich begriff, es würde schwierig werden, wir würden nirgendwo hingehören, und ich würde für Simon lange, lange Zeit dieser Halt sein müssen, von dem der Mann eben gesprochen hatte.
    Dennoch: Ich war bestärkt worden in meinem Glauben, und das war ein beglückendes Gefühl. Ich wusste nichts mit Gewissheit, aber ich glaubte. Ich glaubte, dass in meinem Kind eine Person steckte, die dachte und fühlte, die wünschte und verzweifelte. Und der man nahekommen konnte. Auch aus meinem Kind, sagte ich mir, würde einmal eine solche Stimme erklingen.
    Ich verließ das Symposium als ein Mensch mit einer Mission. Erhobenen Hauptes, erschöpft, und doch voller Energie.

Das Leben und die Bücher – und wiederum das Leben
    Die Diagnose hatte uns geholfen, eine Einordnung vorzunehmen. Das Symposium hatte mir gezeigt, dass wir ganz konkret etwas tun konnten. Autismus, das war doch was. Da gab es medizinische Fachbücher, ganze Sammelbände, Zeitschriften, Erfahrungsberichte von Eltern, in Gestützter Kommunikation entstandene Texte von Betroffenen. Es gab eine ganze Szene, in die man eintauchen konnte, um sich nicht mehr ganz so hilflos zu fühlen.
    Als Erstes begann ich zu lesen. Als Germanistin war es ohnehin mein Liebstes, sich einem Thema über die Literatur zu nähern. Ganz ehrlich, es war manchmal einfacher, sich mit diesen Büchern zu beschäftigen als mit dem Kind selbst, das im Wohnzimmer saß, nicht spielte und nichts sprach und jede Initiative ins Leere laufen ließ.
    Jedenfalls befand ich mich beim Lesen, Unterstreichen, Exzerpieren und Zusammenfassen zum ersten Mal seit langem wieder auf meinem ureigenen Territorium. Das hatte ich an der Universität gelernt, das konnte ich, das hatte ich über Jahre hinweg betrieben. Das war ich selbst. Ich fand mich ein Stück weit wieder – in der Tätigkeit an sich, nicht nur in den Texten, die meine Situation widerspiegelten.
    Zum ersten Mal allerdings war die Lektüre nicht nur interessegeleitet, sie war existentiell.
    Mein damaliger Mann brachte es nicht über sich, die Bücher anzurühren, bis heute. Es tat wohl einfach zu weh. Er haderte noch mit dem Schicksal. »Womit habe ich das verdient?«
    Bis zu einem gewissen Punkt konnte ich sein Verhalten verstehen. Wir beide hatten es immer abgelehnt, unsere Kinder nach vorgegebenen Grundsätzen zu erziehen, sie in irgendwelche Schemata hineinzupressen. Das war schon bei unserem ersten Kind so gewesen. Wir hatten lediglich Barbara Sichtermanns »Leben mit einem Neugeborenen« gelesen, das uns aus dem Herzen gesprochen hatte, ansonsten hatten wir alle Erziehungsratgeber links liegen lassen. Die Pädagogik ist voller Ideologismen, die uns beiden aus Prinzip zuwider sind. Der natürliche Zugang, die Spontaneität des Herzens und der gesunde Menschenverstand würden es schon richten.
    Bei Jonathan hatte das auch wunderbar geklappt. (Okay, nachdem unser Großer uns noch mit vier Jahren immer wieder den Nachtschlaf raubte, griffen wir zu dem Werk »Jedes Kind kann schlafen lernen«. Aber wir haben es immerhin schon nach einer Woche wieder verfeuert, letztlich wütend auf uns selbst. Jonathan besuchte dann unser Bett noch ein weiteres halbes Jahr und hörte von selbst damit auf, als er so weit

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