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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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war.) Aber was nützt einem der gesunde Menschenverstand bei Autismus? Wir waren am Ende unserer Intuition angekommen. Trotzdem musste es weitergehen. Bei dem Verdikt »Man kann nichts machen« konnten wir nicht stehen bleiben. Es war irgendwie paradox: Man konnte nichts tun und musste doch.
    Ich glaube, bei meinem Mann war etwas zerbrochen in den zwei Jahren, die hinter uns lagen, in denen wir versucht hatten, die Hoffnung auf eine normale Entwicklung aufrechtzuerhalten und Simon beizubringen, was Kinder in seinem Alter eben lernen: Rad fahren, Würfelspielen, Farben benennen, Reden, verdammt noch mal. »Sag nicht ›gelb‹, sag ›Banane‹, du konntest das Wort doch schon mal. Nein, nicht ›Ba‹, ›Banane‹. Sag es!«
    Es war wie der Versuch, mit einem Wattestäbchen Löcher in Beton zu kratzen. Ermüdend, verzweifelnd, zum Aus-der-Haut-Fahren. Irgendwann gab Simons Vater auf, glaube ich. Er sah die kleinen Erfolge nicht mehr und leugnete lieber die empfindsame Seele, die in dem Kind steckte. Er konnte sich stundenlang dabei aufhalten, dass Simon ihn nicht Papa nannte. Mich nannte er auch nicht Mama. Manchmal nannte Simon seinen Vater beim Vornamen, manchmal nannte er ihn »Günther«, weil er einen Werbespot für Fertighäuser gesehen hatte, in dem mein Mann und unser großer Sohn mitgespielt hatten; und in diesem Video hießen die beiden »Günther« respektive »Nico«. Ich vermute mal, dass Simon dieser Spot ganz schön aus der Fassung gebracht hat: dass Vater und Bruder als andere Menschen mit anderen Namen in einem anderen Zuhause herumlaufen konnten. Vielleicht hat es in ihm sogar den Irrglauben genährt, dass Namen – oder gar Identitäten – eben wechselnd und nicht so wichtig waren. Andererseits war das vielleicht einfach sein Autismus: Wir waren Handpuppen, nichts weiter, so hatte er es ja in einer seiner Geschichten erzählt. Oder, oder, oder.
    Nannte er mich eben nicht Mama, mir war das egal, so lange ich mich ihm nahe fühlte. Es gab sicherlich einen Grund dafür. Ich würde ihn irgendwann finden.
    Vermutlich schützte Simons Vater sich einfach selbst, und er brauchte wohl auch noch Zeit, um zu trauern. Aber aus meiner damaligen Sicht gab er das Kind auf. In mir begann der Verdacht zu wachsen, er würde es nicht lieben. Wenn er den Anblick der anderen behinderten Kinder in Simons Schule nicht ertragen konnte, die zu betreten er anfangs strikt vermied, wie empfand er dann wohl, überlegte ich, sein eigenes Kind? Er vermied das »B-Wort« noch immer, er mied die Therapeuten, denen ich mich im Gegenteil schamlos öffnete, und er mied auch die Bücher. Wir nahmen unterschiedliche Wege.
    Ich las Fachbücher von Psychiatern und Ärzten, von Pädagogen und Therapeuten, verschlang die Erlebnisberichte von Eltern und autobiographische Bücher von Betroffenen. Ich wollte mein Kind erlesen, nachdem ich es so nicht begreifen konnte. Ich musste unbedingt wissen, was Simon dachte, wie seine Welt aussah, was ich von ihm erwarten konnte, damit ich wusste, wie ich mit ihm umgehen sollte. Wenn ich das nicht aus meiner eigenen Beobachtung lernen konnte, dann eben aus Büchern.
    Ich wollte ihn nicht länger überfordern, ihn mit Erwartungen unter Druck setzen, die für andere Kinder normal, für ihn aber nicht zu erfüllen waren. Etwas, das wir bis dahin, fürchte ich, aus Unwissenheit und Panik nur zu oft getan hatten. Wenn wir ihn unbedingt zum Sprechen zwingen wollten zum Beispiel. Wenn wir ihn in Musikgärten, Turnstunden und auf Kinderkonzerte schleiften. Wenn wir verlangten, seine kraftlosen Hände und sein interesseloser Griff sollten aus Sand eine Burg formen. Wenn ich die Bilder betrachtete, die er malte, war es ja offensichtlich, wie er sich sah: Nach einer langen Phase, in der er lediglich das Blatt mit Strichen in ein Mosaik aus immer kleiner werdenden Flächen eingeteilt hatte, vermutlich Ausdruck seiner Suche nach Ordnung und Halt, malte er jetzt – endlich – Männchen. Und die hatten Finger wie Seegras! Lange, dünne, ins Nichts auslaufende Fäden, die sich im Wind zu wiegen schienen. Mit Fingern, die sich so anfühlten, konnte Simon nichts ergreifen, formen oder bauen.
    Ich lernte, dass Autisten in der Wahrnehmung ihres eigenen Körpers gestört sind, dass ihnen manchmal das Gespür für ganze Körperteile einfach verlorengeht, dass manche

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