Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
Vom Netzwerk:
Bild des Inhalts: Malpapier, Murmeln, Bauklötze. Viele der Bildchen fand ich im Internet, andere schnitt ich aus Malbüchern aus oder kopierte sie aus Bilderbüchern. Laminiert wurde im Copyshop, wo ich zuletzt als Studentin gewesen war, erst, um stundenlang Lehrbücher zu kopieren, später dann, um meine Bewerbungsmappen zusammenzustellen. Jetzt bastelte ich wieder hier herum, inmitten viel jüngerer Gesichter. Simon saß auf der Ablage, um ihn herum surrende Maschinen und schwatzende Leute, und verlangte permanent nach Hause.
    Außerdem hatte ich mir vorgenommen, klarer zu kommunizieren, also etwa Anweisungen in ihre einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Das hieß zum Beispiel, nicht zu sagen: »Hol dein Buch.« Sondern: »Geh in dein Zimmer. Nimm dort dein Buch vom Tisch. Bring es her zu mir aufs Sofa.« Am Anfang war es besser, Simon dabei zu begleiten, mit ihm in sein Zimmer zu gehen und ihn vor Ort zu erinnern: »Was willst du hier?« – »Genau, das Buch vom Tisch.« – »Wo ist der Tisch?« – »Ja, da. Nun nimm das Buch.«
    Darauf lief es hinaus: ständig an seiner Seite zu sein.
    Ich lernte ihm zu untersagen, meine Hand zu packen und als Werkzeug zu benutzen, stattdessen aber auch die Dinge nicht für ihn zu erledigen, sondern sie allenfalls zu beginnen und ihn zu Ende führen zu lassen: das Öffnen von Schubladen, das Aufdrehen von Flaschen. Oder umgekehrt seine Hände zu ergreifen und ihm zu helfen, die Handgriffe auszuführen: seine wie leblose Hand um den Schneebesen zu schließen und nicht loszulassen, bis der Kartoffelbrei umgerührt war. Dann: Besen ablegen, zur Schublade gehen, aufziehen, einen Löffel herausnehmen, Löffel und Schüssel zum Tisch tragen, hinsetzen, essen.
    Alles wurde geführt und geleitet, wieder und wieder. Später dann konnte er Teile des Vorgangs auch auf verbale Anweisung hin ausführen. Heute kann er sich seinen geliebten Kartoffelbrei fast alleine anrühren; ich mache nur das Wasser im Wasserkocher heiß und begleite ihn mit Nachfragen, wenn der Prozess stockt.
    Sie finden das nicht überragend? Für uns ist es viel.
    Und: Wir sprechen hier von Entwicklungen, die sich über Jahre hinzogen.
    Es gibt ein Trainingsprogramm, genannt Teacch (Kürzel für: Treatment and Education of Autistic and related Communication-handicapped Children), das darauf abzielt, den gesamten Alltag auf diese Weise, mit Bildfolgen und immergleichen Abläufen, mit Tabletts, Körben und festgelegten Arbeitsflächen, bis zur letzten Bewegung hin durchzustrukturieren; ganze Schulen und Tagesstätten arbeiten damit, und durchaus erfolgreich. Es hilft Autisten, klarzukommen und letztlich irgendwann vielleicht die automatisierten Abläufe mit weniger oder gar keinen Hilfen und Anweisungen zu reproduzieren. Wir arbeiteten im Grunde zu Hause mit Elementen aus Teacch. Aber der Gedanken, dass mein ganzes Leben davon bestimmt sein könnte, ließ mich ehrlich gesagt erschauern. Immer alles auf genau dieselbe Weise zur minutengenau selben Zeit am selben Platz tun – das widersprach mir im tiefsten Inneren. Ich bin ein Mensch, der gerne mal schlampt, häufig improvisiert, mit dem Chaos durchaus liebäugelt, aus Überzeugung alle fünfe gerade sein lässt und die Ausnahme weit mehr schätzt als die Regel. Ich bin auch nicht streng, eher verständnisvoll, und dem Kommandoton durchaus abgeneigt. Alles Verhandlungssache, das ist schon eher mein Stil. Für Autisten taugt das alles natürlich wenig. Mein Freund, der uns erst ein Jahr kennt und alles noch von außen betrachten kann, sagt heute, ich wäre keine gute Autistenmutter.
    Ich gestehe, es fiel mir schwer, mich für Simon umzustellen, und ich habe es auch nicht so weit getan, wie ich es vielleicht hätte tun sollen. »Sie sind die Mutter«, sagten die Therapeuten beruhigenderweise, »nicht die Therapeutin. Sie haben die Langstrecke. Sie dürfen nicht mehr tun, als Sie über die gesamte Zeit zu tragen vermögen.«
    Ich habe es gerne gehört und als Entschuldigung angeführt. Zu gerne vielleicht. Ich wusste nie wirklich sicher, ob dieses Argument mein Recht darauf begründete, ich selbst zu sein, oder ob es nur eine gute Ausrede war für meine Faulheit. Ich weiß es bis heute nicht. Die Angst und das schlechte Gewissen, nicht genug zu fördern, nicht genug zu erziehen, einfach überhaupt und insgesamt

Weitere Kostenlose Bücher