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Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können

Titel: Ich liebe dich nicht, aber ich möchte es mal können Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tessa Korber
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ist mein Kind behindert; es ist so anders als jedes gleichaltrige Kind, so nachhaltig daran gehindert, am normalen Leben in dieser Gesellschaft teilzunehmen – ich wüsste nicht, was eine Beschönigung da bringen sollte.
    Jetzt benutzte ich das böse Wort: behindert . Ich tat es oft, laut, fast exzessiv. Es war so erleichternd. Denn dieses Wort gab Simon das Recht darauf zu sein, wie er war. Er wusste ja selbst, dass etwas an ihm anders war. Nicht umsonst hatte er in einer Phase seines Lebens mit der für ihn typischen Hartnäckigkeit danach verlangt, wieder ein Baby zu sein: Er wollte zurück zu dem Zustand, in dem er das Dasein noch bewältigt hatte. Meine Mutter erzählte mir später, sie habe Simon einmal beobachtet, wie er vor dem großen Spiegel am Schlafzimmerschrank stand, ganz alleine. Er hatte eine Hand auf den Spiegel gelegt, starrte sich in die Augen und wiederholte immer wieder: »Ich hasse dich, ich hasse dich. Ich hasse dich.«
    Jetzt war er nicht mehr seltsam, er war jemand. Er war ein Autist.
    Das »B-Wort« entlastete auch uns: von dem Verdacht, pädagogisch versagt zu haben, in irgendwelche psychischen Trickkisten verwickelt zu sein. In dieser Hinsicht waren wir die glücklichen Spätgeborenen. In der Anfangsphase der Erforschung dieser Krankheit hieß es noch, Autismus werde ausgelöst durch die Kälte der Bezugspersonen – das Schlagwort der sogenannten »Kühlschrankmütter« machte die Runde. Eltern, die ohnehin schon verzweifelt darüber waren, keinen Kontakt zu ihren Kindern aufbauen zu können, wurden noch mit Vorwürfen konfrontiert und dem Verdacht, ihr Kind unbewusst abzulehnen. Das blieb uns erspart. Wir erfuhren gleich, dass Autismus eine genetisch bedingte Krankheit ist, in hohem Grad erblich, die zu einer Störung der Stoffwechselfunktionen im Gehirn führt. Eine Sache, über die man noch wenig wusste, über die aber immerhin viel geforscht wurde. Und die Betroffene und ihre Angehörigen aus der Ecke des »wer weiß, was bei denen alles schiefläuft« herausholte. Es war eine Krankheit, eine Behinderung, und durch die hatten wir Anspruch auf Hilfe.
    Ich weiß noch, dass ich ganz kurz nach der Diagnosenstellung gehört hatte, dass ein Symposium in Nürnberg zum Thema Autismus abgehalten wurde. Der Besuch dort führte mich, den absoluten Neuling, ohne dass ich das so rasch begriff, in das Zentrum von etwas, das ich als »Szene« bezeichnen würde. Es gibt Einrichtungen für Autisten, wie etwa spezielle Tagesstätten, auf die Krankheit spezialisierte Kliniken und Ärzte, eine bundesweite Elternhilfsorganisation, Beratungsstellen, Vortragsreisende in Sachen Autismus, Fachtagungen, Fortbildungsseminare und so weiter. Die Menschen, die intensiv mit dem Thema Autismus beschäftigt sind, treffen sich regelmäßig, man kennt sich, tauscht sich aus. Mittendrin in diesem Haufen von Insidern stand ich nun an einem Samstag, ohne eine Vorstellung von den Strukturen dieser Gemeinschaft, dieses Netzwerks, und vor allem, ohne eine Menschenseele zu kennen. Zuletzt war mir das vor Jahren auf einem Symposium in Fribourg über Literatur und Mystik passiert, auf dem ich meine Doktorarbeit vorgestellt hatte. Auch damals war es meine erste derartige Veranstaltung gewesen, ich stand zwischen den ganzen alten arrivierten Professoren herum und hatte mich wie eine Hochstaplerin gefühlt. Nun ging es mir ganz genauso. Unsere Diagnose war ja so frisch, die Tinte auf dem Papier noch nicht getrocknet, mit dem sie uns schwarz auf weiß präsentiert worden war. Sie galt quasi noch gar nicht richtig.
    Wie alle trug ich ein Namensschild und hatte einen Anspruch auf Kaffee und Mittagstisch, wie die wissenschaftlichen Kongressteilnehmer auch. Um mich herum tummelten sich Ärzte, Psychiater, Heimleiter und Erzieher, lauter Profis. Selbst die paar Eltern, die ich erspähte und mit denen ich als Erstes zaghaft ins Gespräch kam, schienen mir alte Hasen zu sein, die routiniert Adressen und Informationen austauschten.
    Ich fühlte mich klein, unbedarft, eine Unwissende mit einem komischen Kind.
    Den ersten Vortrag verschlang ich geradezu. Es ging um Sprachverhalten, und beinahe jeder Satz war eine Offenbarung: Ja. Ja. Ja. Genau das machte Simon, genau das kannte ich. Hier wurde beschrieben, was ich täglich erlebte. Es war kein sinnloser Wahnsinn, es war bekannt, es ließ sich einordnen, war bis zu

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